DOMRADIO.DE: Pater Mertes, hatten Sie vor zehn Jahrebn damit gerechnet, dass Ihr Rundschreiben an die ehemaligen Schüler so eine gigantische Resonanz auslöst?
Pater Klaus Mertes (Jesuit und Direktor des katholischen Kollegs Sankt Blasien): Nein, ich hatte mit einer Resonanz durch die ehemaligen Schüler gerechnet und vielleicht auch mit Berichten in der lokalen Presse. Aber eine so große Reaktion war nicht vorhersehbar.
DOMRADIO.DE: Warum sind Sie diesen Schritt damals gegangen?
Mertes: Weil es um die Verantwortung geht. Wenn Sie erfahren, dass es in ehemaligen Jahrgängen mindestens 100 Opfer von Missbrauch geben muss, dann gibt es eine Verantwortung zu fragen: Was ist denn da gewesen? Es ist wichtig, die Betroffenen zu bitten, sich zu melden, weil ja davon auszugehen ist, dass sie es früher vielleicht sogar versucht haben, aber nicht gehört wurden.
DOMRADIO.DE: Wenn Sie sagen, es gab eine Verantwortung, sind Sie aber offenbar einer der ersten gewesen, der das so gesehen hat. Wie sehr sind Sie in den vergangenen Jahren für diesen Schritt angefeindet worden?
Mertes: Ich bin von vielen sehr angefeindet worden. Aber viel mehr habe ich aus dem Inneren des katholischen Kirchenvolkes Unterstützung erfahren. Es ist ja völlig selbstverständlich, dass man in einer solchen Frage Verantwortung übernimmt.
DOMRADIO.DE: Eine Folge der Missbrauchskrise ist inzwischen auch der Synodale Weg, den die Kirche mit Laien gemeinsam beschreiten möchte. Ist das der in Ihren Augen notwendige Aufbruch?
Mertes: Ich glaube, dass die Thematik des sexuellen Missbrauchs insbesondere auch durch Kleriker und vor allem auch die Frage der Vertuschung bzw. der Blindheit auf der Leitungsebene gegenüber dem, was in diesem Kontext Verantwortung bedeutet, tief hineinragt – besonders auch in die systemischen Kontexte, die all dies begünstigen. Aus dieser Thematik kommt natürlich auch eine Kraft für einen echten Turnaround.
Aber nur, wenn die Kirche – und zwar die Weltkirche, nicht nur die Kirche in Deutschland – begreift, dass es im innersten Kern der Sendung der Kirche schädlich bis zerstörerisch wirkt, wenn sie nicht in der Lage ist, Kinder vor Tätern und Vertuschung zu schützen. Die Täter brechen ja nicht einfach von außen in die Kirche ein, sondern kommen aus dem Innersten der Kirche, tragen in ihr Verantwortung und repräsentieren. Deswegen, glaube ich, ist die Missbrauchsgeschichte ein Signal und ein Fanal an die Kirche, umzudenken im Sinne der biblischen Buße und Umkehr.
DOMRADIO.DE: Es gibt den Vorwurf, dass der Missbrauchsskandal kirchenpolitisch dafür genutzt wird, um beispielsweise die Abschaffung des Zölibats durchzusetzen. Teilen Sie diese Ansicht?
Mertes: Das ist ein ungeheuerliches Totschlagargument. Und diese Totschlagargumente sind deswegen nicht zu widerlegen, weil sie immer recht haben. Sie können immer dann, wenn der systemische Hintergrund bei Missbrauch und Begünstigung von Missbrauch – der niemals zu verwechseln ist mit einer direkten Ursache, aber eben doch mit dem Begünstigen zusammenhängt – angesprochen wird, sagen, hier werde etwas instrumentalisiert.
Aber das ist nichts anderes als eine Abwehrreaktion gegenüber dem Thema. Ich finde das empörend, vor allem, wenn es aus bischöflichem Munde kommt.
Das Interview führte Tobias Fricke.