Es wird viel leerer als sonst. Das prophezeit der Domschweizer, schon bevor die Christmette im Kölner Dom überhaupt angefangen hat. Aus der Menschenmenge, die vor der Hauptpforte dem Glockengeläut des 'Decken Pitters' horcht, wird langsam eine Schlange. "Sonst stehen die Leute hier nach Mitternacht", erzählt der Domschweizer. Jetzt ist schon eine Viertelstunde vorher nur noch so wenig los, dass man kaum vor dem Einlass warten muss.
Das einzige, was aufhält, ist die 3G-Kontrolle. Karten oder Sitzreservierungen gab es nicht. Der Dom macht zu Weihnachten seine Tore weit auf – sofern man sich an seine Regeln hält. "Die Kopfbedeckung muss man vorher abziehen, um dem Dom die gebührende Ehre zu erweisen." Da kennt der Schweizer keine Ausnahmen.
Besucher aus der ganzen Welt
Das erfährt auch die Gruppe junger Christen, die aus Australien, Kanada und den USA angereist ist. Die dicke Wollmütze muss runter. Warum sie die Weihnachtstage in Köln verbringen? "Wir haben gehört, dass der Weihnachtsmarkt toll sein soll." Offenbar hat er dieses Versprechen gehalten. Sie schwärmen immer noch von Crêpes, dem Eislaufen auf dem Heumarkt und von "Pretzels and Sausages". Dass all das nicht gerade typisch Kölsch ist, spielt für sie keine Rolle – das soll nun der Dombesuch wett machen. "Das ist ein beeindruckendes Bauwerk, ich bin auf die Atmosphäre gespannt", sagt Benjamin Gardener, bevor er mit schnellen Schritten hinter den schweren Eingangstüren verschwindet. Er kann es nicht erwarten.
Jutta und Albrecht Schießler sind da entspannter. Das Paar aus Stuttgart, das den Sohn besucht, war schon zu Ostern im Dom. "Wir sind katholisch verwurzelt", erzählt Jutta Schießler. Sie freuen sich auf die Musik und das Gefühl, in einer der größten Kathedralen der Welt zu stehen. Da ruft ein Kölner dazwischen: "Und die Menschen! Man freut sich auch auf die Menschen!" Der Kölner liebt vor allen Dingen sich selbst, aber auch alle anderen.
Feierlicher Gottesdienst mit viel Musik
Dieses Jahr haben die Einheimischen dem Dom aber eher den Rücken zugedreht. Davon spricht auch Weihbischof Rolf Steinhäuser, der anstelle von Kardinal Rainer Maria Woelki, der sich in einer geistlichen Auszeit befindet, in den vergangenen Wochen dessen Tätigkeiten in der Funktion des Apostolischen Administrators übernommen hat. "Ich war schon lange nicht mehr so nervös vor einem Gottesdienst", sagt Steinhäuser. So viele Menschen habe er seit der Corona-Pandemie im Dom noch nicht gesehen. Dennoch sind es deutlich weniger: Rund 750 zählen die Domschweizer, darunter hauptsächlich Touristen und Auswärtige.
Jeder hat einen Sitzplatz und es sind noch welche frei. Sonst kommen zwischen 2000 bis 5000 Leute in die Kirche. Viele gehen diesmal schon während der Christmette. "Es ist schon sehr spät", erzählt eine Frau aus Japan. Für ein Erinnerungsfoto ist noch genug Zeit. Der Großteil bleibt jedoch bis zum Schluss. Hört die kleine Bläsergruppe, die "Stille Nacht, Heilige Nacht" spielt. Im Seitenschiff singt der Kölner Domchor "Mary’s Lullaby", während die heilige Kommunion ausgeteilt wird.
Eine Predigt über die vielen Gesichter Gottes
Bei der Weihnachtspredigt hat sich Weihbischof Steinhäuser schwergetan. "Das Grundthema bleibt ja immer gleich. Dass Gott im Kind Jesu Mensch geworden ist, hat wenig Nachrichtenwert", spricht er von der Kanzel. Es sei einfacher, in der Feier mitzuerleben, was Weihnachten ist. "So wie wir, als bei den Worten ‚Finsternis weichet‘ zum Einzug der Dom hell und lichterfüllt wurde."
Steinhäuser predigt über die verschiedenen Gesichter Gottes, die ihm die Menschen gaben. Der "zahnlose alte Mann, der irgendwo auf einer Wolke schwebte". Der "Fürst, dem man lieber mit gebeugtem Rücken" begegne, weil er in seiner Unberechenbarkeit "herrlich und schrecklich" zugleich sein könne. Und zuletzt der, der die "Guten belohne und die Schlechten bestrafe".
"Wenn Gott so ist, warum gibt es dann keine Gerechtigkeit auf der Erde? Kümmert ihn nicht das Leid der Kinder, die Not der Missbrauchten, der Hunger der Elenden?", so Steinhäuser. Gott sei nicht so, wie man ihn sich gedacht habe. "Im Lachen des Kindes bleibt nichts vom despotischen Tyrannen. Seine Tränen lassen uns nicht mehr an einen fühllosen Gott glauben. Der Kult der Macht und der Angst zerbricht." Gottes neuer Bund habe mit einem kleinen Kind begonnen, das sich schutzlos ausgeliefert habe. "Ein Kind will einfach geliebt werden. Gott will geliebt werden", sagt Steinhäuser. 30 Jahre hatten die Menschen Zeit, all das Neue auszukosten. "Dann sind wir reif genug, um auch in das Geheimnis des Leidens hineingenommen zu werden, aber auch für die Hoffnung des Weizenkorns."
Weihnachten ist nur der Beginn unseres Glaubens
In einem alten Lied heiße es: Wer dies Kind mit Freuden umfangen und küssen will, muss vorher mit ihm leiden. "Vergessen Sie diesen Text." Man müsse erst umarmen und küssen. Erst komme Weihnachten, dann der Karfreitag. "Und so bitter er ist, am Ende strahlt über allem die Ostersonne." Weihnachten sei Freude und entzücken, denn "Gott ist bei den Menschen angekommen".
Verstanden haben die jungen Christen aus Australien, den USA und Kanada die Predigt nicht. Sie sprechen kein Wort Deutsch. Aber dafür blieben sie bis zum Schluss. Weihbischof Steinhäuser hatte Recht: Wahrscheinlich ist es einfacher, in der Feier mitzuerleben, was Weihnachten ist. Wenn das Licht angeht und die Finsternis weicht.
Nicolas Ottersbach