DOMRADIO.DE: Charkiw liegt westlich von Luhansk und Donezk, und nur 40 km von der russischen Grenze entfernt. Wie haben Sie den Ausbruch des Kriegs am 24. Februar erlebt?
Vitaly B. (60): Um halb fünf morgens war ich wach und saß am Laptop. Als die ersten Explosionen zu hören waren, wusste ich, das Krieg ist. Ich hatte es schon länger geahnt. Ich glaubte zwar nicht daran, aber vieles hatte darauf hingedeutet: die amerikanischen Warnungen, die Truppenbewegungen, die russische Propaganda und zuvor auch schon der Krieg im Donbass seit dem Jahr 2014. Damals war das ein riesen Schock für mich. An diesem Morgen schaute ich aus dem Fenster, das zur russischen Grenze hinausgeht, und sah eine Flammensäule. Dann hörte ich Raketen über unser Hochhaus fliegen.
DOMRADIO.DE: Was war Ihre erste Reaktion?
B.: Zuerst wollte ich in der Stadt bleiben. Ich deckte mich mit Wasser und Konserven ein, holte die wichtigsten Dokumente aus dem Büro und kehrte zurück in meine Wohnung. Ich wohne aber am äußersten Rand der Stadt, sodass bald immer mehr Panzerschüsse wahrnehmbar wurden. Abends sah ich ein Hagelpaket, nur zwei Kilometer entfernt. Mir wurde klar, dass durch die Lage meines Wohnhauses weitere Projektile zu erwarten wären und man sich hier nicht verstecken könnte, wenn sie durch die Fenster kämen. Also entschloss ich mich umzuziehen.
DOMRADIO.DE: Haben Sie sich dann auf die Flucht gemacht?
B.: Ich habe ein paar Sachen zusammengepackt und wollte zu einem Freund ins Zentrum der Stadt fahren. Er hatte aber schon mehrere Menschen bei sich aufgenommen. Also telefonierte ich mit Bekannten, die bereits auf dem Weg in die Westukraine, nach Ivano-Frankiwsk, waren. Ich schloss mich ihnen an. Mit sehr wenig Schlaf kamen wir zwei Tage später dort an. Ein Leben unter einer Besatzungsmacht konnte ich mir nicht vorstellen.
DOMRADIO.DE: Eine Rückkehr nach Charkiw war ausgeschlossen?
B.: Nein, nach einem Monat ging ich zurück, als die russischen Truppen aus Kiew verlegt wurden und die Situation sich ein wenig beruhigt hatte. Mit einem Freund wollte ich Linsen, Gestelle und Brillen aus meiner Optik in einen Kleintransporter verladen. Dabei verbrachte ich eine Nacht in meiner Wohnung. Es gab keine Heizung, nur Wasser und Strom. Als ich am nächsten Morgen Tee in meiner Küche trank, erreichten Minen das Feld vor meinem Haus. Ich spürte einen Einschlag im Haus. Die Wände erzitterten. Ich fragte die Nachbarn draußen, ob unser Wohnkomplex getroffen wurde, sie bejahten es. Nach vierzig Minuten wiederholte sich das Szenario, diesmal traf es das vierte Treppenhaus – ich wohne im ersten. Zusammen mit dem Freund verließen wir Charkiw unter Beschuss. Es war einfach zu gefährlich.
DOMRADIO.DE: Anderthalb Monate verbrachten Sie dann in Ivano Frankiwsk. Wie ging es weiter?
B.: Ich meldete mich beim Militär, wurde aber aufgrund meines Alters und meines gesundheitlichen Zustands abgelehnt. Auch als Helfer fand ich keine wirkliche Beschäftigung. Mein Erspartes war fast aufgebraucht. So wagte ich einen Neustart in Deutschland.
DOMRADIO.DE: Wie geht es Ihnen mittlerweile, auch in Wuppertal?
B.: Ich bin der Kirchengemeinde in Wuppertal sehr dankbar für die freundliche Aufnahme. Auch die Caritas und andere soziale Einrichtungen erlebe ich positiv. Deutschland zeigt so viel Solidarität – das ist toll! Der neue Ort und die Amtsgänge lenken mich ab von den Gedanken an den Krieg. Ich versuche weniger Nachrichten zu konsumieren als früher, weil es psychisch und emotional sehr belastend ist. Man wird depressiv, weil man nichts dagegen tun kann. Ich fahre nun regelmäßig mit dem Fahrrad über die Nordbahntrasse, in die ich mich verliebt habe. Es ist erstaunlich: Man tritt mit den Füßen in die Pedale, aber es passiert etwas mit dem Kopf.
DOMRADIO.DE: Wie blicken Sie in die Zukunft?
B.: Wissen Sie, ich schaue nicht in die Zukunft. Ich habe auch keine großen Hoffnungen. Das klingt jetzt vielleicht pessimistisch. Aber der Krieg wird noch lange dauern, so wie der Wiederaufbau. Ich lebe im Moment von Tag zu Tag.
Das Interview wurde geführt und übersetzt von Elena Hong.
Aktuelles aus der Ukrainer-WG
Derzeit wohnen vier Geflüchtete im Gemeindehaus der Friedhofskirche: Volodymyr, alleinerziehender Vater und Sohn Kyrylo, Vitaliy und Jeff, Student aus Nigeria, der zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs in Kiew studiert hat.