Eine Analyse der Münsteraner Missbrauchsstudie

"Es gibt noch ein viel größeres Dunkelfeld"

Mindestens 610 Opfer und rund 200 Täter. Eine Studie von Historikern der Universität Münster setzt sich mit sexuellem Missbrauch im Bistum auseinander. Die Täter wurden meist geschützt. Eine Analyse der bisherigen Erkenntnisse.

Studienergebnisse zum Missbrauch im Bistum Münster / © Guido Kirchner (dpa)
Studienergebnisse zum Missbrauch im Bistum Münster / © Guido Kirchner ( dpa )

DOMRADIO.DE: Wie war die Pressekonferenz in Münster?

Ingo Brüggenjürgen / © Harald Oppitz (KNA)
Ingo Brüggenjürgen / © Harald Oppitz ( KNA )

Ingo Brüggenjürgen (Chefredakteur DOMRADIO.DE): Die katholische Kirche bemüht sich seit dem Jahr 2010 intensiv, Licht in dieses dunkle Kapitel zu bringen.

Da war die große Pressekonferenz zur sogenannten MHG-Studie (Die MHG-Studie war ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zum Thema Sexueller Missbrauch in der römisch-katholischen Kirche in Deutschland, das in den Jahren 2014 bis 2018 von einem Forschungsverbund aus Experten mehrerer universitärer Institute durchgeführt wurde, Anm. d. Red.) im Jahr 2018, bei der die deutschen Bischöfe bundesweit die ersten Ergebnisse vorgestellt haben.

Nun ist es Zeit, dass in den einzelnen Diözesen Ergebnisse vorgestellt werden. Wir erinnern uns daran, dass Köln vorgelegt hat. Aachen, Berlin und München/Freising sind dann gefolgt.

Heute gab es einen ganz großen Andrang im Bistum Münster. Über 60 Vertreter der Presse waren da. Das Interesse der Öffentlichkeit war groß. Aber auch viele Betroffene waren vor Ort. Sowohl die Öffentlichkeit als auch die Betroffenen sind es auch, die dafür sorgen, dass Licht ins Dunkel kommt.

DOMRADIO.DE: Was sind denn die wichtigsten Ergebnisse, wenn man versucht, diese mal ein bisschen zusammenzufassen.

Studie: Flächendeckender Missbrauch im Bistum Münster

Die Zahl der beschuldigten Priester und Missbrauchsopfer im Bistum Münster ist nach einer Studie der Universität Münster deutlich höher als bekannt. Laut der über zwei Jahre dauernden Forschungsarbeit eines fünfköpfigen Teams gab es von 1945 bis 2020 fast 200 Kleriker und bekannte 610 minderjährige Opfer von sexuellem Missbrauch. Damit sind 4,17 Prozent der Priester betroffen. Die Dunkelziffer ist erheblich höher. Die Forscher gehen von 5000 bis 6000 Opfern aus.

 Studie zu Macht und sexuellem Missbrauch in Münster
 / © Lars Berg (KNA)
Studie zu Macht und sexuellem Missbrauch in Münster / © Lars Berg ( KNA )

Brüggenjürgen: Die Münsteraner Wissenschaftler haben eine sogenannte Hellfeld-Analyse gemacht. Das heißt, sie haben das auszuwerten versucht, was wirklich da ist. Das sind Quellen, die das Bistum Münster der Uni Münster zur Verfügung gestellt hat.

Die Forschungsgruppe unter der Leitung von Historiker Großbölting hat über 60 Betroffeneninterviews geführt. Dabei kam zutage, dass seit dem Jahr 1945 bis jetzt über 196 Kleriker, genauer gesagt 183 Priester, Täter waren. Fünf Prozent waren davon sogar Serientäter, die sich mehrfach an Minderjährigen vergangen haben.

Beachtlich ist daran, dass bei 90 Prozent dieser Täter ihr Handeln ohne jegliche strafrechtliche Konsequenz blieb.

Man kann in dieser Hellfeld-Studie zudem über 610 Betroffene registrieren. Das sind also noch mal ein Drittel mehr als bei der bundesweiten Studie, die man 2018 vorgelegt hat.

Aus meiner Sicht ist es ganz erschreckend, dass es ein noch viel größeres Dunkelfeld gibt. Die Wissenschaftler haben davon gesprochen, das es acht bis zehn Mal so groß sei.

Immer wieder erschütternd ist, dass es ein Versagen auf der kompletten Leitungsebene gegeben hat. Das heißt, die Bischöfe von Bischof Keller, Bischof Tenhumberg und Bischof Lettmann bis teilweise auch noch Bischof Genn versagen eigentlich auf ganzer Linie.

DOMRADIO.DE: Das Bistum Münster hat bei der Aufarbeitung die Uni Münster um Mithilfe gebeten. Es ist also hier ein wissenschaftlicher Ansatz gewählt worden. Wo liegt denn der Unterschied zu den bisher veröffentlichten Studien?

Brüggenjürgen: Im Erzbistum Köln, aber auch im Bistum Aachen hat man Juristen beauftragt, entsprechende Studien zu erstellen. Die Wissenschaftler in Münster haben gesagt, dass das auch gut sei, weil es ein richtiger und wissenschaftlicher Ansatz sei. Sie hätten auch auf diese rechtliche Betrachtung zurückgegriffen.

Aber die Münsteraner Forschungsgruppe war der Ansicht, es brauche einfach noch mehr. Sie haben einen sozial-anthropologischen Ansatz gewählt, einen zeithistorischen Ansatz. Sie haben die Pastoral, die Lebenswirklichkeit, die Praxis unter die Lupe genommen. Sie sind der Ansicht, da seien sie einfach näher am Leben, näher an der Praxis.

Insofern ist diese Studie ein wenig umfangreicher. Damit ist sie, glaube ich, vielleicht auch noch mal aussagekräftiger und eine größere Hilfe für die kirchlichen Verantwortlichen.

Wissenschaftler haben dem Bistum auch attestiert, dass das Bistum Münster zumindest bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung sehr gut kooperiert habe. Bei der sonstigen Aufarbeitung seien aber eklatante Fehler gemacht worden.

DOMRADIO.DE: Gibt es denn schon erste Reaktionen der Verantwortlichen im Bistum Münster oder der Betroffenen?

Historiker Thomas Großbölting (l) und Klaus Große Kracht zur Münsteraner Studie / © Guido Kirchner (dpa)
Historiker Thomas Großbölting (l) und Klaus Große Kracht zur Münsteraner Studie / © Guido Kirchner ( dpa )

Brüggenjürgen: Die Betroffenen wurden bereits gestern von der Öffentlichkeit informiert. Die wissenschaftliche Gruppe hat sich gestern Nachmittag mit über 60 Betroffenen bis in den frühen Abend getroffen und ihnen die Ergebnisse vorgestellt.

Heute wurde das Gutachten ganz offiziell an die Betroffenen übergeben. Die Sprecherin der Betroffenen, Frau Wiese, hat sich für diesen Meilenstein bedankt. Sie hat aber ebenfalls betont, dass das Gutachten nur die Spitze des Eisberges dokumentiere. Daran müsse konsequent weiter gearbeitet werden.

Bischof Felix Genn, der das Gutachten in Empfang genommen hat, konnte sich naturgemäß noch nicht im Detail äußern, weil er die Studie ja nicht kennt. Er wird das am Freitag machen. Er hat aber gesagt, dass er sowohl persönlich als auch für die Institution verantwortlich sei.

Angesichts dieses immensen Leides könne er eigentlich gar keine Entschuldigung erwarten, wenn er um Entschuldigung bitte. Aber er wolle Verantwortung übernehmen und er wolle alles tun, damit weiterer Missbrauch verhindert werde, damit es weiter unabhängige Aufklärung gebe und damit die volle, persönliche und institutionelle Verantwortungsübernahme gewährleistet sei.

Daran will sich Bischof Genn messen lassen.

Ingo Brüggenjürgen, Chefredakteur DOMRADIO.DE

"Es macht einen schon betroffen, wenn man hört, dass der Leiter der wissenschaftlichen Gruppe die Kirche als "Täterorganisation" beschreibt."

DOMRADIO.DE: Welche Schlussfolgerungen kann die katholische Kirche daraus ziehen?

Brüggenjürgen: Es macht einen schon betroffen, wenn man hört, dass der Leiter der wissenschaftlichen Gruppe die Kirche als "Täterorganisation" beschreibt. Es gibt systemische Faktoren, die ganz klar darauf hindeuten, dass Kirche hier versagt, dass Missbrauch in den eigenen Reihen immer wieder ein Problem ist und dass Menschen deswegen zu Opfern werden, weil sie katholisch sind.

Deshalb gilt es, dringend die entsprechenden Kriterien in Angriff zu nehmen. Es gibt nämlich spezifisch katholische "Ermöglichungsbedingungen", die zu Missbrauch führen. Das ist zum Beispiel die Hierarchie, das Versagen der Hierarchie, die Überhöhung des Priesterbildes.

Bedenklich ist zudem, dass der Priester sozusagen als heilig angesehen wird. Man glaubt nicht, dass man gegen ihn etwas machen kann, weil die Institution den Priester schützt.

Außerdem ist die Sexualmoral der katholischen Kirche schwierig, da sie zu Lügen, Vertuschung, Schweigen und Bigotterie führt.

Letztendlich besteht auch ein gewisser Klerikalismus an der Basis, bei den Laien, die immer nach oben schauen, ohne wirklich sehen zu wollen, was denn da wirklich ist. Da gibt es also viel zu tun. Und der Synodale Weg ist vielleicht auch nur ein erster Schritt. Das haben die Wissenschaftler deutlich gemacht

Das Interview führte Bernd Hamer.

Quelle:
DR