Wer schon einmal an einem Allerheiligen- oder Allerseelentag abends auf dem Friedhof war, blickt in ein warmes Lichtermeer: Überall brennen Kerzen auf den Gräbern. Es ist ein schöner Gedanke zu wissen, dass all die Verstorbenen, die hier auf dem Friedhof ihre letzte Ruhe gefunden haben, nicht vergessen sind. Jedes Licht erinnert an einen Menschen, angezündet von den Angehörigen oder anderen Hinterbliebenen.
Viele Menschen machen sich Anfang November extra auf den Weg, um unter Umständen auch weiter entfernte Friedhöfe und Grabstätten zu besuchen. Für viele ist das auch eine gute Gelegenheit, die noch lebenden Verwandten wiederzusehen. Ein guter Brauch und eine schöne Möglichkeit, sich an die Verstorbenen zu erinnern.
Alltägliche Erinnerung suchen
So wie die Grablichter nach einigen Tagen ausgebrannt sind, so droht auch die Erinnerung übers Jahr zu verblassen. Bald sind wieder andere Dinge wichtiger – Weihnachtsvorbereitungen stehen an, das schöne Frühlingswetter will genossen werden oder der Sommer mit all seinen Unternehmungen.
Eigentlich schade, denn die Verstorbenen haben das eigene Leben durchaus geprägt. Man trägt ihre Gene in sich oder war mit ihnen befreundet und hat daher meist viel Zeit mit ihnen verbracht. Warum also nicht das ganze Jahr hindurch jene im Gedächtnis und im Herzen tragen, die schon von einem gegangen sind?
Dazu braucht es ja nicht unbedingt den Gang zum Friedhof, der manchmal zu weit weg ist. Stattdessen kann es ganz alltägliche Erinnerungsmomente geben, die die Verbindung zu dem verstorbenen Menschen wieder entstehen lassen.
Die Toten nicht vergessen
So kann eine alltägliche Handlung im Haushalt dazu führen, dass man sich erinnert, etwa an den eigenen Vater, der das Brot immer auf eine ganz bestimmte Weise aufgeschnitten hat. An die Mitschwester, die die Glocke immer mit ganz besonders viel Hingabe geläutet hat. An die Freundin, die immer den besten Marmorkuchen gebacken hat. Auf diese Weise gibt es dann auch mitten im Jahr und im Alltag Minuten des Innehaltens und Gedenkens. Sie muss man nicht groß vorbereiten oder planen, man muss sich nur darauf einlassen und vom Augenblick anrühren lassen.
Natürlich kann man solche Erinnerungsmomente auch forcieren, indem man bewusst Erinnerungsstücke im eigenen Alltag platziert. Das kann ein Löffel aus der Küche der verstorbenen Tante sein, der immer in der Handtasche ist. Unterwegs erinnert man sich so an die reiselustige Dame, von der man vielleicht mehr geerbt hat als nur das praktische Utensil. Oder man findet in seiner Wohnung einen Platz für den CD-Spieler der verstorbenen Mutter. Selbst wenn man nicht die gleiche Musik hört, kann man sich doch bei jedem Tastendruck daran erinnern, wie die eigene Mutter die gleichen Tasten berührt und ihre Musik genossen hat.
Nach vorne schauen
Das dauert gar nicht lange. Und doch ändert es den Alltag, indem man sich für einen Atemzug mit denen verbindet, die vor einem waren und von denen man viel für das eigene Leben lernen durfte. So ein kurzer Moment der Erinnerung im Alltag ist dann völlig ausreichend. Denn es ist nicht lebensförderlich, nach einem Todesfall nur in der Vergangenheit und in Verbindung mit den Verstorbenen leben zu wollen.
So lange das eigene Leben dauert, muss man es leben, es in die Hand nehmen und selber gestalten. Dazu muss man auch wieder nach vorne schauen und den Blick von den lieben Verstorbenen lösen.
Wenn man weiß, woher man kommt und wer dazu beigetragen hat, dass man heute der oder die Person ist, dann kann man viel besser in die Zukunft gehen. Man kann seine eigene Prägung anschauen und reflektieren - das Gute darf behalten, das weniger Gute abgelegt werden. So kann man sich auch entscheiden, ob man in bestimmten Situationen wie der eigene Vater reagieren möchte oder ob man seine eigene Umgangsweise findet. Denn mit einer guten Erinnerungskultur ist man in guter Verbindung mit der Vergangenheit - und hat zugleich ein Fundament, um stark in die Zukunft zu gehen.