Das Jubiläum beginnt mit einer Premiere. Der 100. Giro d'Italia startet an diesem Freitag erstmals in Alghero auf Sardinen. Die Zielankunft am 28. Mai dagegen heißt, ganz klassisch: Mailand. Dazwischen liegen für die Radsportelite aus der ganzen Welt mehr als 3.500 Kilometer, die bezwungen werden wollen: von den Hängen des Ätna auf Sizilien über die Hügel der Toskana bis zu den Bergriesen der Alpen.
Eine Art religiöse Verzückung
Bei vielen Italienern rufe die Ankunft des Pelotons Gefühle wach, "die der religiösen Verzückung, mit denen sich die Leute zu Ostern auf den Petersplatz nach vorne drängeln, in nichts nachstehen", schreibt die niederländische Autorin Lidewey van Noord in ihrem auf Deutsch erschienenen Buch "Pellgrina. Eine italienische Radsportwallfahrt."
Das alles mag dem ein oder anderen befremdlich erscheinen. Aber großes Kino vor großartiger Landschaft hat der Giro schon immer geboten. Und ähnlich wie bei der Tour de France ging auch bei der erstmals 1909 ausgetragenen Italienrundfahrt die Initiative von einer Zeitung aus, in diesem Falle der "Gazzetta dello Sport", der sich der "Corriere della Sera" anschloss. Das Rennen passte in eine Zeit, in der der Nationalstolz blühte und sich Tourismus und moderner Sport zu etablieren begannen.
"Nebenbei" hofften die Organisatoren auf Gratiswerbung und jede Menge Geschichten für ihre Blätter. Hoffnungen, die nicht enttäuscht wurden. Angefangen bei Luigi Ganna, dem ersten Gewinner. Der Mann war eigentlich Maurer und fuhr täglich von seinem Heimatort Induno Olona rund 60 Kilometer mit dem Rad zur Arbeit nach Mailand. Am Lenker hing, so heißt es bei van Noord, eine Tasche mit einem Butterbrot und einer Trinkflasche, in der sich mit etwas Wein verlängertes Zuckerwasser befand.
Doping kann man das wohl noch nicht nennen. Aber natürlich spielten im Laufe der Zeit auch verbotene Substanzen eine Rolle. "Bomben" hießen die "dynamischen Gebräue", die, wie Dino Buzzati festhielt, "einen Toten vom Katafalk springen lassen wie einen Gaukelspieler".
Großes Duell zwischen Bartali und Coppi
Der Schriftsteller war 1949 beim Giro als Reporter dabei und erlebte ein Duell für die Ewigkeit: das zwischen Gino Bartali und Fausto Coppi.
Die Sportler galten damals als Inbegriff der Gegensätze, die ihr Heimatland in der Nachkriegszeit prägten, so der Historiker Benjo Maso. "Bartali, der Christdemokrat, stand für das traditionelle Italien und den Katholizismus; Coppi personifizierte den Modernismus, den kühlen Rationalismus und den Sozialismus." Zusammen kamen beide auf vier Tour de France-Siege - und acht erste Plätze beim Giro d'Italia.
Während Coppi von Kirchentreuen spätestens dann geschnitten wurde, als er seine Gattin zugunsten einer verheirateten Frau verließ, stand "der Mönch" Bartali selbst bei Päpsten hoch im Kurs. "Ihr solltet strampeln wie Bartali, um ins Himmelreich zu kommen", mahnte Pius XII. (1939-1958). Und Johannes Paul II. (1978-2005) sagte über den im Jahr 2000 verstorbenen Radheroen: "Bartali war nicht nur ein herausragender Sportler, sondern auch ein herausragender Mensch."
Harte Bergwertungen
Die Bergwertung am höchsten Punkt der Rundfahrt heißt dagegen seit 1965 "Cima Coppi" und führt diesmal wie schon so oft in der Geschichte des Giro auf das 2.757 Meter hohe Stilfser Joch. Derartige Bergfahrten waren auch für durchtrainierte Profis immer schon eine echte Plackerei. "Jeder Einzelne sah aus wie der gekreuzigte Christus", schrieb Dino Buzzatti über den Ausgang einer Dolomitenetappe 1949.
Da hilft möglicherweise nur noch Beten. Die Radsportler hätten dazu in diesem Jahr in Oropa Gelegenheit. In dem Marienwallfahrtsort in Piemont endet die 14. Etappe. Im Jahr 1999 gewann dort der in Italien immer noch als Volksheld verehrte Marco Pantani (1970-2004) die Etappe.
"Elefantino" wurde der schmächtige Bergfahrer wegen seiner abstehenden Ohren genannt. Sein mutmaßlicher Suizid rührte selbst Kirchenmänner. Pantani, von Doping-Vorwürfen belastet, sei mit seinen Problemen allein gelassen worden, befand Kardinal Tarcisio Bertone.
Sein Tod solle zum Nachdenken anregen, wie man dem Sport ein menschlicheres Antlitz geben könne. Diese Frage bleibt aktuell - abseits aller Jubiläen und sportlicher Großereignisse.