Es bleibt auch im Sommer oft sehr kühl, elektrisches Licht fehlt, und das Wasserholen ist mit einem 15-minütigen Gang zum nächsten Brunnen verbunden. Für den 58-jährigen Belgier Stan Vanuytrecht beginnt ein neuer, komfortloser Lebensabschnitt. Der Diakon und gelernte Vermessungstechniker wird Mitte Mai ein Dasein als Einsiedler führen und die Eremitage im österreichischen Saalfelden beziehen. Er freut sich sehr auf die herausfordernde Zeit. "Ich bin bereit", sagte der zweifache Vater mit geradezu bilderbuchmäßigem weiß-grauem Vollbart am Samstag.
Kälte ein Problem
Sein neues Zuhause ist eine vor 350 Jahren an den Fels des Palfen gebaute Einsiedelei mit einer benachbarten Kapelle, die dem Heiligen Georg gewidmet ist. Die Küche ist nur eine Herdstelle, die Wohnstube mit Tisch, Stuhl und Bank ist so spartanisch wie der Schlafraum, der ein einfaches Bett, aber keinen Schrank vorweist. Mit seinen 1,93 Meter wirkt der Pfeifenraucher für das winzige, feuchte Gemäuer auf 1000 Metern Seehöhe eine Nummer zu groß.
"Die Kälte ist schon ein Problem", sagt ein Sprecher der Stadt. Deshalb hat die Gemeinde einen Holzstapel am Schloss Lichtenberg unterhalb der Klause errichtet. Von dort können die Wanderer dem Einsiedler Scheite mit nach oben bringen.
Die 17 000-Einwohner-Stadt profitiert von der bestens ausgeschilderten Einsiedelei, die sich seit rund 50 Jahren zu einem Wander- und Pilgerziel entwickelt hat. "Das ist natürlich auch eine gute Werbung für Saalfelden", sagt Bürgermeister Erich Rohrmoser. So richtig einsam dürfte es zumindest tagsüber nicht werden. Darüber ist sich Vanuytrecht im Klaren. "Die Stille am Morgen und am Abend und der intensive Kontakt mit den Besuchern tagsüber sind für mich die ideale Kombination." In Blick- und Hörweite von Straßen und Ortschaften im Tal scheint die Stille aber auch in Randzeiten nicht immer garantiert.
Liebhaber der Einsamkeit
Mindestens zwei Grundvoraussetzungen bringt der ruhig und gefestigt wirkende Belgier für sein neues Leben mit: "Ich lege keinen Wert auf Luxus und weltliche, materielle Annehmlichkeiten", versichert er glaubhaft. Nach seiner Scheidung lebe er seit 17 Jahren allein. "Ich liebe die Einsamkeit."
Er habe in seinem bewegten Leben schon einen "totalen psychischen Zusammenbruch" und eine schlimme finanzielle Krise durchgemacht. Er habe Obdachlose, Gefangene und Trauernde betreut. Jetzt möchte er ein offenes Ohr für alle Menschen und ihre Sorgen haben, sagt Vanuytrecht, der gut Deutsch spricht und seine Kenntnisse dank Lehrbüchern und der Muße oben in der Einsiedelei noch perfektionieren will. Denn das Gespräch sei der Dreh- und Angelpunkt des Lebens. "Unsere Gesellschaft hat unbegrenzte Möglichkeiten, um zu kommunizieren. Aber wir haben vergessen, wie wir mit unseren Nachbarn kommunizieren sollen."
Vanuytrecht ist seit dem 17. Jahrhundert der 34. Einsiedler. Einige hielten es mehr als 30 Jahre aus, manche andere brachen nach einem Jahr ab. Niemand muss auf dem unbezahlten Solo-Posten bleiben. Die Freiheit zu gehen lockt jeden Morgen. Für Vanuytrecht ist es aber ein Lebensprojekt, wie er betont. Neben der Erhaltung der Klause und der Betreuung der Kapelle hatten die Einsiedler auf ihrem Ausguck früher auch die Aufgabe, in den Orten auf einen Brandausbruch zu achten und per Glocke zu alarmieren.
Klause im Winter tabu
Der Einsiedler Karl Kurz öffnete 1967 die Klause für Besucher. Das sprach sich herum. Zwei Jahre später saß der Mann in der TV-Rateshow "Was bin ich?" bei Robert Lembke. Spätestens dadurch wurde aus dem Ort mit seiner tollen Aussicht eine Attraktion.
Der Einsiedler Franz Wieneroiter, der gleich dreimal dort oben ein- und wieder auszog, hat seine Erfahrungen in einem Aufsatz zusammengefasst: "Unbrauchbar sind Aussteiger, die sich von der Welt gänzlich zurückziehen wollen, gleich aus welchem Grund. Als Eremit steigt man ein in ein neues, von Einfachheit und Offenheit vorgezeigtes Leben."
Dennoch führt der Einsiedler der Moderne eine Art Doppelleben. Im Winter ist die lawinengefährdete Klause tabu und der Eremit muss in eine Wohnung ziehen. Eine weitere Verbeugung vor dem 21. Jahrhundert ist die Mini-Photovoltaik-Anlage, mit der der Einsiedler sein Handy - bei bestem Netzempfang - aufladen kann.