DOMRADIO.DE: Schon 1923 wollte Adolf Hitler gemeinsam mit dem Weltkriegs-General Erich Ludendorff der jungen Demokratie der Weimarer Republik den Todesstoß versetzen, die Macht an sich reißen. Wie genau hat Ellen Amman denn dazu beigetragen, dass das gescheitert ist?
Dorothee Sandherr-Klemp (Geistliche Beirätin im Katholischen Deutschen Frauenbund): Bereits im Frühjahr 1923 ist Ellen Ammann zusammen mit anderen Frauen der bürgerlichen Frauenbewegung mit dem Vorschlag beim Innenminister vorstellig geworden, Hitler als kriminellen Ausländer auszuweisen. Dramatischer- und tragischerweise ist der Innenminister diesem Vorschlag nicht nachgekommen, obwohl das politisch praktikabel gewesen wäre. Denn Hitler war bereits in vielfacher Weise aufgefallen.
Zur Frage der Rolle Ammanns bei der Beendigung des nationalistischen Putsches von rechts im November 1923: Ellen Ammann hatte zufällig über ihre engste Vertraute Marie Amelie von Godin von dem bevorstehenden Putsch erfahren. Und jetzt folgte wirklich ein Krimi, es folgten 36 Stunden wirklich rastloser Aktivitäten Ammanns.
Wenn ich einen Film drehen würde, würde ich dafür zwei Orte wählen, nämlich den Bürgerbräukeller, wo der Putsch stattfand, wo sich die Massen versammelten, wo jüdische Geiseln genommen wurden, wo Hitler mit einer Pistole in die Decke schoss, wo er Angst hatte, dass der Generalstaatskommissar Gustav von Kahr ihm zuvorkommen würde mit diesem nationalistischen Putsch.
Das würde ich gegenschneiden mit der sozial-karitativen Frauenschule München, die Amman gegründet hatte. Diese beiden Orte waren nämlich absolut entscheidend: Hier Hitler, der agitiert, der schreit und dort die ruhige, hochkonzentriert und besonnen agierende Politikerin Ellen Ammann. Sie handelt sofort. Sie informiert alle nicht in den Putsch involvierten Regierungsmitglieder – und zwar nach dem Schneeball-Prinzip, Handys gab es ja zu der Zeit nicht. Ihr Sohn Franz informierte sogar den stellvertretenden Ministerpräsidenten als Fahrradkurier. So sollten alle nicht involvierten Regierungsmitglieder informiert werden, und sie sollten sich versammeln an einem sicheren, nicht politischen Ort, nämlich in der sozial-karitativen Frauenschule in München.
Warum war das so wichtig, dass sich alle versammelten, dass sie informiert wurden über den Putsch? Auch die Bayerische Volkspartei war damals immer weiter nach rechts gerückt. Es war gar nicht klar, dass die Regierung wirklich mit einer Stimme sprechen und den Putsch verurteilen würde. Aber genau das geschah. In der Münchner Frauenschule versammelten sich alle, Ammann organisierte noch ein Auto, mit dem ein Teil der Regierung nach Regensburg in Sicherheit gebracht werden konnte.
Von dort aus wurden dann alle weiteren Entscheidungen getroffen. Und so wurde die zunächst im Grunde überhaupt nicht informierte, auseinanderdriftende Regierung durch das wirklich unglaublich koordinierende, organisierende, hervorragend kommunizierende Eingreifen Ellen Ammanns zusammengebracht. So wurde sie handlungsfähig und sprach am Ende mit einer Stimme gegen den Putsch. Das war entscheidend für dessen Beendigung.
DOMRADIO.DE: Trotz Ellen Ammanns beherzten Eingreifens am 9. November 1923 taucht ihr Name in der Geschichtsschreibung kaum auf. Woran liegt das?
Sandherr-Klemp: Ich denke, es liegt daran, dass Ellen Ammann tatsächlich in kein Raster passte, dass sie nie in ihre Zeit gepasst hat. Denn zum erstarkenden Nationalsozialismus mit seiner ideologischen Geschlechterpolarität hat sie natürlich überhaupt nicht gepasst, schon gar nicht zu dessen Vorstellung von der Frau, die nur im Haus wirkt und nicht nach außen - und dem Mann, der nach außen tritt, der der Krieger ist, der Starke.
Und leider, das muss man wohl sagen, passte sie auch nicht in die auch wieder in gewisser Weise restaurativen Nachkriegsjahre. Sie passt schlicht nicht ins Raster der männlichen Geschichtsschreibung, sie wurde ignoriert. Und heute sind es auch tatsächlich eher Historikerinnen, die ihre Bedeutung herausgearbeitet haben und weiter herausarbeiten.
DOMRADIO.DE: Wo liegen die Wurzeln dieser ganz besonderen Frau?
Sandherr-Klemp: Sie wurde als Ellen Aurora Sundström in Stockholm geboren, und zwar als Tochter naturwissenschaftlich geprägter, hoch gebildeter Eltern. Ihr Vater war Lehrer naturwissenschaftlicher Fächer und Journalist und als solcher mit Charles Darwin befreundet; die Mutter war ebenfalls Wissenschaftsjournalistin.
Ellen wuchs gemeinsam mit ihrer Schwester Harriet vergleichsweise frei in Stockholm auf. Die Eltern lebten ihnen Gleichberechtigung in der Ehe vor. Und weil Schweden damals in Sachen Frauenemanzipation Deutschland und auch gerade Bayern um Lichtjahre voraus war, konnten Mädchen dort viel früher Gymnasien besuchen, junge Frauen studieren. Die beiden Mädchen wurden von den Eltern sehr gefordert und gefördert. Sie wurden zum Angeln, zum Segeln, zum Wandern mitgenommen, in ihrem Kinderzimmer stand ein Mikroskop, zu ihrem Alltag gehörten politische Gespräche.
Ich glaube, man kann sagen, dass Ellen und ihre Schwester eine relativ freie und sie wirklich auch als Mädchen stärkende Kindheit erleben durften.
DOMRADIO.DE: Was hatte Ellen Aman mit dem Katholizismus zu tun?
Sandherr-Klemp: Die Staatsreligion in Schweden war ja der Protestantismus. Aber die frankophilen Eltern haben Ellen auf das französische Gymnasium in Stockholm geschickt, das von katholischen Ordensfrauen geleitet wurde. Ihre Mutter war dem Katholizismus sehr zugeneigt, sie ist dann auch konvertiert.
Hier war bereits der Grund gelegt. Ellen hatte dann den Wunsch, nach dem Abitur Lehramt zu studieren, vielleicht wieder an ihre französische Klosterschule zurückzukehren und gar in einen Orden einzutreten. Ellen wurde auch zur Konvertitin, zu einer wirklich tief im Glauben verankerten Christin katholischer Konfession.
DOMRADIO.DE: Sie war in vielerlei Hinsicht, das haben Sie schon gesagt, ihrer Zeit voraus, vor allem auch in Sachen Gleichberechtigung. Wie genau hat sich das geäußert?
Sandherr-Klemp: Ja, sie war unbedingt ihrer Zeit voraus. Um die historische Wahrheit zu sehen, müssen wir aber auch von Ambivalenz sprechen. Sie hat unglaublich viel für Frauen getan, für Frauenbildung, für Frauenrechte. Gleichzeitig war sie aber auch gefangen in der konservativ-katholischen Ideologie der Geschlechterpolarität. Verrückterweise hat sie gerade dieser Ideologie mit ihrem Leben komplett widersprochen.
Faktisch steht ihr Leben, nämlich dieses Hinausgehen, dieses Gestalten, dieses Gründen, dieses sich Vernetzen der Vorstellung von der Frau als Hüterin des Hauses komplett entgegen. Insofern war sie wirklich eine Leuchtturmfrau der Gleichberechtigung. Aber sie hatte eben auch dieses katholisch Konservative in sich und konnte sich aus dieser Ambivalenz nie ganz lösen. Aber durch ihr Leben hat sie ganz klar einen Leuchtturm für die Frauenemanzipation gesetzt, keine Frage.
DOMRADIO.DE: Sie war Pionierin auch der Sozialarbeit. Und sie hat eben ganz früh politische Weitsicht gezeigt, und zwar schon lange vor dem Putschversuch.
Sandherr-Klemp: In Sachen Sozialarbeit war sie wirklich Pionierin in der Professionalisierung, in der Notwendigkeit auch präventiver Sozialarbeit, zum Beispiel durch ihre Gründung der Bahnhofsmission. Da war sie ihrer Zeit weit voraus. Sie hat auch gekämpft um bezahlte Stellen für Frauen. Und sie hat klar erkannt: Ohne Solidarität, ohne Vernetzung werden die einengenden Strukturen nicht zu überwinden sein. Und deswegen hat sie auch 1904 den Münchner Zweigverein des Katholischen Frauenbundes gegründet. Denn Networking war – modern gesprochen - wirklich ein wichtiger Strang in ihrem Leben. Und so hat sie eben auch Sozialarbeit, so hat sie all ihre Aktivitäten vorangebracht.
Was die politische Weitsicht angeht, gilt das Stichwort Ambivalenz – nicht, um Ellen Ammann weniger zu würdigen, sondern wiederum um der historischen Wahrheit willen und um deutlich zu machen: Auch sie war ein Kind ihrer Zeit.
Nationalistisches Denken war auch ihr nicht fremd. Aber, und das macht den großen, den entscheidenden Unterschied aus: Politisch weitsichtig ist sie in ihrer Einschätzung, dass die auf Hass und Abwertung anderer aufgebaute Ideologie des Nationalsozialismus nur Unheil bringen würde. Politisch weitsichtig war sie darin, vor der „Vergötterung des Nationalen“ zu warnen. Politisch weitsichtig war sie in der Erkenntnis, dass die Person Hitler brandgefährlich war und Zerstörung und Verderben bringen würde.
DOMRADIO.DE: Wir sprechen in einer Zeit, in der viele Länder nach rechts rücken. Warum hat Ellen Ammanns Leben und Wirken gerade heute so eine Relevanz?
Sandherr-Klemp: Wahrscheinlich hat ihr Leben für jede Zeit Relevanz. Besonders aber heute, wo Frauen in sozialen Netzwerken, aber auch in der Kommunalpolitik und generell in der Politik so viel Hass und so viel Aggression entgegengeschleudert wird. Da ist es wirklich gut, sich an diese Frau zu erinnern, an solche Frauen zu erinnern. Es ist wichtig, sich zu vernetzen, sich zu verbünden, zum Beispiel im Frauenbund. Es machte Sinn und das tut es auch heute Not.
DOMRADIO.DE: Was tun Sie vom KDFB, um Ellen Ammann ins öffentliche Bewusstsein zu holen, um ihr den Platz in der Geschichte zu geben, der ihr gebührt?
Sandherr-Klemp: Tatsächlich haben wir gerade dieses Jahr, verbunden mit dem 120. Frauenbund-Jubiläum, auf der großen Frauenfriedenswallfahrt in der Frauenfriedenskirche in Frankfurt unserer drei Gründungsmütter gedacht, nämlich Hedwig Dransfelds, Helene Webers, die ja auch als Mutter des Grundgesetzes bekannt ist, und Ellen Ammanns.
Wir haben sie in einer beeindruckenden Ton-Installation sozusagen selbst zu Wort kommen lassen. Außerdem haben wir ziemlich coole Postkarten mit Zitaten dieser drei Gründungsmütter drucken lassen, wie zum Beispiel: "Der reine Männerstaat ist das Verderben der Völker“ von Helene Weber.
Der KDFB-Landesverband Bayern vergibt alle zwei Jahre den Ellen Ammann-Preis, um an ihr beeindruckendes Lebenswerk zu erinnern. Ellen Ammans 150. Geburtstagsfest wurde nach Corona groß gefeiert, es gibt eine Dauerausstellung in München im Frauenbund; jetzt ganz aktuell gibt es im Frauenbund-Blog einen Beitrag über sie. Ja, es tut Not an unsere Gründungsmütter zu erinnern, an diese beeindruckenden Gestalten. Gerade heute, wo wieder der Antifeminismus sein Haupt erhebt, wo sich Frauenhass und sehr reaktionäre Tendenzen Bahn brechen, brauchen wir Vergewisserung und Bestärkung durch solche Vorbilder wie Ellen Ammann: In ihr verbanden sich der Freiheitsgeist ihrer Kindheit mit tiefem christlichem Glauben zu Stärke und Tatkraft für ein hoch engagiertes Leben. Es ist gut, an sie zu erinnern!
Das Gespräch führte Hilde Regeniter.