DOMRADIO.DE: Die katholische Kirche in Illinois hat bislang von knapp 200 beschuldigten Geistlichen gesprochen. Die ermittelnde Staatsanwaltschaft sagt, es seien 690 Beschuldigte. Wie erklärt sich diese Differenz?
Prof. Godehard Brüntrup (Jesuit, Philosoph und USA-Experte): Es geht darum, wie viele Namen von Tätern öffentlich gemacht wurden. Wir in Deutschland machen aus Personenschutzgründen normalerweise gar keine Namen von Tätern öffentlich, die nicht rechtskräftig verurteilt wurden. In USA ist man jetzt dazu übergegangen, die Namen aller möglichen Täter öffentlich zu machen, auch wenn die Taten 40 bis 70 Jahre zurückliegen oder wenn nur eine einzige Beschuldigung vorliegt. So haben das zum Beispiel die Jesuiten vor kurzem getan. Das ist in Deutschland gar nicht vorstellbar.
Hier geht es darum, dass die Diözese von etwa 700 Fällen, die auch Jahrzehnte zurückreichen, etwa 180 namentlich öffentlich bekannt gemacht hat. Das sind vor allen Dingen solche, wo es mehrere Beschuldigungen gibt oder wo es Verfahren gibt, in denen aufgeklärt wurde, dass der Verdacht berechtigt ist.
DOMRADIO.DE: Warum spricht die Staatsanwaltschaft von knapp 700 Fällen?
Brüntrup: Weil 500 andere bekannt sind. Viele davon sind niedergeschlagen worden, weil man gesagt hat, der Verdacht sei nicht hinreichend erhärtet. Dann sind solche Fälle dabei, die die Diözese nicht bekannt gegeben hat, weil es Ordenspriester sind, die der Diözese nicht angehören, sondern einer Ordensgemeinschaft. Die Meldung müsste die entsprechende Ordensgemeinschaft vornehmen. Und andere Personen sind bereits tot. Die meisten von den 500 Geistlichen sind tot. Die Diözese hatte sich bisher entschlossen, bei verstorbenen Tätern die Namen nicht öffentlich zu machen.
DOMRADIO.DE: Bedeutet es denn, dass die katholische Kirche mangelnden Aufklärungswillen gezeigt hat? So wird es ihr vorgeworfen.
Brüntrup: Natürlich hat die katholische Kirche mangelnden Aufklärungswillen gezeigt, wie jede andere Institution auch. In den USA geht gerade die größte Jugendorganisation, die "Boy Scouts", die Pfadfinder, anscheinend bankrott, weil sie die Entschädigungszahlungen für die missbrauchten Jugendlichen nicht mehr aufbringen kann. Das Phänomen, dass die Institutionen zu spät berichten, ist sehr weit verbreitet.
Die Frage ist nur, ob der Name von jedem, der in irgendeiner Weise beschuldigt wurde, öffentlich gemacht werden muss. Darum geht es in der Auseinandersetzung, auch wenn man für diese Anschuldigungen vielleicht wenig Grund hat oder wenn man sich unsicher ist, ob es wirklich stimmt. Darauf wird es jetzt in den USA hinauslaufen, dass alle Namen bekannt gegeben werden - auch von Verstorbenen, auch von denjenigen, bei denen es vielleicht nur eine Anschuldigung gibt und auch von denjenigen, wo die Anschuldigungen nicht sehr glaubwürdig sind. Das liegt auch daran, dass sich die Kirche in der Vergangenheit keinen guten Ruf im Aufklärungswillen erworben hat, sodass man jetzt sagt: "Einfach alles radikal auf den Tisch".
DOMRADIO.DE: Was würden Sie denn in diesem aktuellen Fall sagen? Wer ist da im Recht? Die Kirche oder die Staatsanwaltschaft?
Brüntrup: Nach unserem deutschen Rechtsempfinden wären wir da etwas vorsichtiger, alle Namen auf den Tisch zu legen, weil natürlich das Leben eines Menschen oder auch das Andenken eines Toten zerstört ist, wenn man eine Anschuldigung veröffentlicht. Denn der öffentliche Eindruck ist immer, dass die Anschuldigung stimmt. Normalerweise gehen wir im deutschen Recht von der Unschuldsvermutung aus, sodass eine Anschuldigung allein nicht reicht.
Aber die Sache ist so verfahren, weil die Kirche so lange blockiert hat und unter den Tisch gekehrt hat, dass wahrscheinlich in diesem schmerzhaften Prozess, einfach alles auf den Tisch zu legen, eine letzte Chance besteht - auch wenn da mancher dabei ist, der vielleicht zu Unrecht angeklagt wird. Wir kommen nicht darum herum, absolut reinen Tisch zu machen und nichts mehr zurückzuhalten.
DOMRADIO.DE: Bei dem Missbrauchsskandal der katholischen Kirche in den USA ist ein Ende nicht wirklich in Sicht. Inwieweit bedroht das inzwischen die Existenz der katholischen Kirche dort grundsätzlich?
Brüntrup: Ich glaube nicht, dass es die Existenz der katholischen Kirche bedroht. Ganz im Gegenteil. Dieser Missbrauch war ein Krebsgeschwür im Organismus der Kirche. Das Bekämpfen eines Krebsgeschwürs, das Herausschneiden kostet Kraft, Energie und tut weh. Aber im Grunde hat man nachher einen gesunden Organismus.
Wir haben ja auch in der katholischen Kirche in den USA in den letzten Jahren praktisch überhaupt keine Missbrauchsfälle mehr. Die Zahlen sind radikal nach unten gegangen. Unabhängige Institutionen, die die Kirche von außen evaluieren, sagen, dass die Kirche mittlerweile einer der sichersten Orte für Kinder und Jugendliche ist, sodass wir es primär in Amerika mit einer Abwicklung, Verarbeitung und Aufarbeitung vergangener Untaten zu tun haben. Von daher bin ich eigentlich ganz optimistisch was die Zukunft der Kirche angeht.
Das Interview führte Uta Vorbrodt.