Erdogans Besuch in Berlin wirft im Vorfeld Fragen auf

"Das ist wirklich inakzeptabel"

Der Staatsbesuch des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan am Freitag in Berlin sorgt für Streit. Darf Deutschland einen Politiker empfangen, der mit der Hamas sympathisiert und sich antisemitisch äußert?

Recep Tayyip Erdogan / © Ali Unal (dpa)
Recep Tayyip Erdogan / © Ali Unal ( dpa )

DOMRADIO.DE: Unmittelbar vor seiner Reise nach Berlin hat der türkische Präsident Israel als "Terrorstaat" bezeichnet, die Existenz des Landes zieht er in Zweifel. Ist Erdogan ein Antisemit?

 Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Archiv) / ©  David Young (dpa)
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Archiv) / © David Young ( dpa )

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (Antisemitismusbeauftragte des Landes Nordrhein-Westfalen): Erdogan hat sich auf alle Fälle sehr antisemitisch geäußert. Er unterstützt die Hamas als "Befreiungsorganisation" und lehnt es deutlich ab, dass sie als Terrororganisation einzustufen ist. Israel hat er Faschismus vorgeworfen. Das ist wirklich inakzeptabel. Seine Äußerungen sind eindeutig antisemitisch. Aber ich will nicht seine Person als Ganzes beurteilen.

DOMRADIO.DE: Von der Politik heißt es seit Wochen: "Für Antisemiten ist in Deutschland kein Platz". Aber jetzt lädt Kanzler Scholz jemanden ein, für den die Terrororganisation Hamas Widerstandskämpfer sind und der Israel das Existenzrecht abspricht. Ist das nicht das falsche Signal?

Leutheusser-Schnarrenberger: Staatspräsident Erdogan wird in Berlin ja nicht mit offenen Armen und Begeisterung empfangen, sondern es ist ein schon lange vereinbarter Besuch, der jetzt nur einem dienen kann: Erdogan unmissverständlich die Haltung Deutschlands zu seinen Aussagen und natürlich Deutschlands Solidarität gegenüber Israel klar zu machen.

Das kann man ihm auch deutlich ins Gesicht sagen. Zu diesem Zweck ist so ein Besuch dann doch vertretbar.

DOMRADIO.DE: Möglicherweise wird Kanzler Scholz das thematisieren, entweder öffentlich oder hinter verschlossenen Türen. Aber vermutlich wird das Erdogan auch nicht beeindrucken, geschweige denn, dass er seine Haltung dadurch ändert.

Leutheusser-Schnarrenberger: Das kann ich nicht beurteilen. Aber in der Vergangenheit hat Erdogan sich nicht immer ganz einheitlich geäußert. Anfangs war er noch etwas umsichtiger. Aber als er gemerkt hat, dass die Stimmung in den arabischen Staaten, bei den arabisch sprechenden Bürgerinnen und Bürgern und bei Palästinensern eindeutig für die Hamas ist, hat er sich ganz klar auf diese Seite geschlagen. Denn er ist ja durch und durch Populist.

Von daher wird er sich durch ein Gespräch, denke ich, nicht in seiner Meinung komplett beeinflussen lassen und dann eine andere vertreten.

Aber es ist auch nach wie vor wichtig, dass auch auf hoher politischer Ebene genau diese Diskussion geführt wird und ihm klar gesagt wird, dass es keinerlei Zugeständnisse oder Rücksichtnahmen geben kann, gerade aus deutscher Sicht. Das ist für mich das Allerwichtigste.

DOMRADIO.DE: Aber geht es hier nicht vielmehr darum, dass man Erdogan dringend braucht, damit er an den Außengrenzen der EU Flüchtlinge und Migranten davon abhält, nach Europa zu kommen? Und weil man die türkische Zustimmung zum Nato-Beitritt Schwedens braucht?

Leutheusser-Schnarrenberger: Wir wissen auch, welche große Rolle die über 950.000 türkischstämmigen Menschen spielen, die in Nordrhein-Westfalen leben. Wir müssen irgendwie miteinander umgehen.

In der jetzigen Situation, seit dem 7. Oktober, wird nicht nur mit Erdogan gesprochen, sondern auch mit Vertretern aus Saudi-Arabien, aus Katar und aus vielen anderen Staaten, mit denen wir sonst - gerade was Menschenrechte und die Haltung zu Israel angeht - nichts gemeinsam haben, weil es um den Versuch geht, Einfluss zu nehmen, beispielsweise mit Blick auf die Geiselbefreiung in Israel.

Die Türkei ist NATO-Staat, deswegen spielt sie auch eine Rolle, gerade was Vermittlungen zwischen Putin und der Ukraine und die Getreidelieferungen angeht.

Das kann man nicht ausblenden, aber das darf natürlich nicht die dezidierte Ablehnung aller Äußerungen von Erdogan, Hamas und Israel betreffend berühren. Da braucht es eine ganz klare Haltung.

DOMRADIO.DE: Seit dem Terroranschlag am 7. Oktober und den Reaktionen auf deutschen Straßen wird viel über muslimisch geprägten Antisemitismus in Deutschland und die Hintergründe diskutiert. Nach wie vor entsendet die türkische Religionsbehörde Diyanet viele Islamgelehrte an deutsche Moscheen. Muss Politik nicht ehrlicherweise sagen, dass sie oftmals nicht genau weiß, was da gepredigt wird?

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

"Wir haben die Ditib natürlich auch im Blick."

Leutheusser-Schnarrenberger: Wir haben in Deutschland einen hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund, die Muslime sind. Aber die dürfen wir hier auf keinen Fall pauschal bewerten.

Ja, von der türkischen Religionsbehörde werden immer noch Imame nach Deutschland entsendet, ungefähr 800. Und wir wissen nicht, was in allen Moscheen, Verbänden und Vereinen passiert. Deshalb brauchen wir viel mehr in Deutschland ausgebildete Imame, die dann auch in deutscher Sprache unterrichten können, damit wir diese Zahl derer, die direkt aus der Türkei kommen, zurückdrängen.

Wir haben die Ditib natürlich auch im Blick. Es ist wirklich wichtig gewesen, dass die NRW-Landesregierung unter anderem auch mit der Ditib NRW eine gemeinsame Erklärung herausgegeben hat, in der der Terror der Hamas eindeutig verurteilt wird. Das betrifft Ditib NRW.

Es ist jetzt wichtig, dass Ditib auch in die eigene Gemeinde hineinwirkt, wo es nicht so einfach ist, Zugang zu bekommen. Gerade wenn ich meine Arbeit in der Antisemitismusprävention anschaue: Wir versuchen immer wieder, gerade zwischen Muslimen und Juden Begegnungen zu schaffen, um von unten für mehr Verständnis zu werben und ihnen eine Alternative zu den einseitigen Sprachregelungen zu bieten, die aus der Türkei kommen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger

"Da hätte man auch schon sehr viel früher reagieren und klar zeigen müssen, dass Hamas in keiner Weise gebilligt werden kann."

DOMRADIO.DE: Sie sind jahrelang Justizministerin gewesen. Können Sie erklären, warum die Hamas in Deutschland erst jetzt verboten wird? Israel, die EU und die USA stufen sie schon lange als Terrororganisation ein.

Leutheusser-Schnarrenberger: Die Hamas ist als Organisation in Deutschland nicht so präsent, als dass sie jetzt als Organisation verboten wurde. Aber das Betätigungsverbot ist endlich ausgesprochen worden. Leider auch viel zu spät für Samidoun, eine Organisation mit Strukturen in Deutschland. Die Hisbollah unterliegt seit 2020 einem Betätigungsverbot.

Ja, da hätte man auch schon sehr viel früher reagieren und klar zeigen müssen, dass Hamas in keiner Weise gebilligt werden kann, sondern eindeutig eine islamistische Terrororganisation ist. Da kommt manches zu spät, das ist richtig.

Aber es ist jetzt natürlich auch angesagt, diese Betätigungsverbote und die Verbote von Organisationen durchzusetzen. Es ist gut, dass das NRW-Innenministerium auch untersucht, welche anderen Organisationen es gibt, die ähnlich wie Samidoun agieren, Terror unterstützen und deshalb möglicherweise verboten werden müssen.

DOMRADIO.DE: Und warum hat das so lange gedauert? Mussten erst über 1.000 israelische Zivilisten bei dem Terroranschlag der Hamas getötet werden?

Leutheusser-Schnarrenberger: In der politischen Meinungsbildung finden immer Abwägungen statt, aber ich kann Ihnen die einzelnen Abwägungen aus dem Innenministerium nicht darlegen. Die Terrororganisation Hamas ist auf europäischer Ebene schon länger als solche gebrandmarkt. Und auf alle Fälle ist es gut, dass das auch in Deutschland unmissverständlich gilt und dass danach vor allen Dingen auch gehandelt wird.

Das Interview führte Ina Rottscheidt.

Antisemitismus

Antisemitismus nennt man die offen propagierte Abneigung und Feindschaft gegenüber Juden als Volksgruppe oder als Religionsgemeinschaft. Der Begriff wird seit dem 19. Jahrhundert gebraucht, oft als Synonym für eine allgemeine Judenfeindlichkeit. Im Mittelalter wurden Juden für den Kreuzestod Jesu verantwortlich gemacht und als "Gottesmörder" beschuldigt. Während der Kreuzzüge entlud sich die Feindschaft in mörderischen Ausschreitungen, Vertreibungen und Zwangsbekehrungen.

Teilnehmende einer Demonstration zur Solidarität mit Israel / © Michael Kappeler (dpa)
Teilnehmende einer Demonstration zur Solidarität mit Israel / © Michael Kappeler ( dpa )
Quelle:
DR