Eremitin Leenen schreibt Buch über das Alleinsein

"Nicht einfach, aber sehr hilfreich für eigenes Menschsein"

Seit 1994 lebt Maria Anna Leenen als Eremitin im Bistum Osnabrück. Allein. Was das heißt, beschreibt sie in ihrer neuen Publikation "Allein sein: Lebensform – Herausforderung – Chance". Sie ermutigt dazu, mal in sich zur horchen.

Autor/in:
Joachim Heinz
Maria Anna Leenen / © I. Kettmann (privat)
Maria Anna Leenen / © I. Kettmann ( privat )

KNA: Maria Anna, was ist schön am Alleinsein?

Maria Anna Leenen (Eremitin): Die Ruhe und die Stille. Ich lebe ja in einer wunderbaren Umgebung im Osnabrücker Land mit sehr viel Wald, Feldern und Seen.

Daraus schöpfe ich eine intensive Wahrnehmung meiner selbst – die noch intensiver ist, wenn ich allein bin.

Einsiedlerin Maria Anna Leenen  (dpa)
Einsiedlerin Maria Anna Leenen / ( dpa )

KNA: Was nervt?

Leenen: Nichts. Das Einzige, was mir in dem Zusammenhang gerade einfällt: Ich mache momentan Holz für den Winter. Und da sind einige sehr dicke Stämme dabei, die ich alleine mit meinen Sägen und Äxten nicht kaputt kriege. Dann muss ich mir halt einen Menschen suchen, der mir dabei hilft. Besonders nerven tut das aber auch nicht.

KNA: Gibt es Unterschiede zwischen Alleinsein und Einsamkeit?

Leenen: Für mich sind das eigentlich Synonyme. Die meisten Menschen sehen Einsamkeit negativ. Ich sehe sie positiv.

KNA: Viele Menschen haben aber gerade in der Corona-Zeit unter Vereinsamung und Isolation gelitten.

Leenen: Das muss man sicher ernst nehmen. Aber ich glaube, die Corona-Zeit hat viele Menschen hart damit konfrontiert, dass sie mit sich selbst nicht allein sein können. Ich habe unglaublich viele Telefonate geführt in dieser Zeit. Da wurde deutlich, dass sich die Menschen selbst nicht aushalten. Das ist ein Zustand, den wir in unserer modernen Welt sehr häufig haben.

KNA: Warum?

Leenen: Die Zeiten des Alleinseins meiden wir. Dann lernt man auch nicht, damit umzugehen. Das heißt: zu sich selbst zu finden und sich so zu akzeptieren, wie man ist.

KNA: Lässt sich so etwas trainieren?

Leenen: Wenn ich merke, ich bin allein und werde unruhig, müsste einen Film gucken, ausgehen oder jemanden anrufen, dann sollte ich mich ein, zwei Stunden hinsetzen, jeglichen Kontakt meiden und mir handschriftlich Antworten auf die Frage geben: Warum fällt mir das so schwer? Wenn man das ein paar Mal macht, dann kriegt man einen Blick dafür. Dann fallen einem vielleicht Dinge ein, die man falsch gemacht hat – und dann sollte man diese Dinge angehen. Es geht also darum, die Chancen des Alleinseins kreativ zu nutzen. Das ist nicht einfach, aber sehr hilfreich für das eigene Menschsein.

KNA: Also mehr Innenschau wagen, anstatt uns zu Tode zu kommunizieren?

Maria Anna Leenen

"Unsere Kommunikation hat sich auf technische Hilfsmittel verlagert."

Leenen: Wir verlernen glaube ich, wirklich miteinander zu kommunizieren. Ich hatte hier kürzlich ein Ferienlager mit jungen Menschen. Für die ist Kommunikation oft entweder Streit, Feiern mit relativ viel Alkohol, oder sie sitzen nebeneinander und schicken sich WhatsApp-Nachrichten. Eine echte Kommunikation von Angesicht zu Angesicht, das können die meisten gar nicht mehr. Das hat sich verlagert auf technische Hilfen.

KNA: Sie haben gut reden, als Eremitin müssen sie ja gar nichts sagen.

Leenen: Ja, das ist so eine wunderschöne Vorstellung, die aber noch nie der Realität entsprochen hat: Der alte Mann mit langem Bart und zerrissener Kutte, der vor der Höhle sitzt, nur mit Gott allein ist, der Rabe bringt ihm das Brot, und aus der Quelle sprudelt das Wasser, und er sieht keinen, hört keinen, spricht keinen. Eremiten waren aber immer Ansprechpartner für andere. Also: Ein Eremit hat Kontakte, aber nicht, um Doppelkopf zu spielen oder ins Kino zu gehen. Dahinter steckt die Absicht, Menschen zu helfen, die einen Rat brauchen oder jemanden, der zuhört. Das ist bei mir genau so wie bei meinen Vorgängerinnen und Vorgängern vor hunderten von Jahren.

KNA: Also sind auch Eremiten nicht ständig allein.

Leenen: Hinzu kommt: Als Diözesaneremitin muss ich meinen Lebensunterhalt selber verdienen.

KNA: Hat eine Eremitin Stress?

Leenen: Im vergangenen Jahr hatte ich ein bisschen Stress. Da habe ich in der Pandemie vier Bücher geschrieben. Die Abgabetermine waren mitunter schon sportlich. Aber das war alles nicht so stressig wie es die meisten Menschen aus ihrem Job kennen. Mein Tag ist immer getaktet mit Stille, Gebet und Meditation – es bleibt also Zeit, durchzuatmen.

Maria Anna Leenen

"Pathologisch ist die Einsamkeit nicht."

KNA: In Ihrem neuen Buch erwähnen Sie mit einer gewissen Bewunderung Reiner von Osnabrück, einen Eremiten, der zwischen 1210 und 1233 eingemauert im Osnabrücker Dom lebte. Wird da Alleinsein nicht pathologisch?

Leenen: Nein. Das ist eine bewunderte Lebensform gewesen, die gab es häufiger im Mittelalter. Heute ist das sicher nicht mehr machbar und vorstellbar. Aber pathologisch ist es nicht, denn Reiner hatte extrem viele Kontakte. Da gab es lange Schlangen vor seiner Klause, um mit ihm zu sprechen. Das war einfach eine außergewöhnlich Form, eremitisch zu leben.

Allein sein: Lebensform – Herausforderung – Chance

Man kann 1.000 Freunde auf Facebook haben und dennoch sehr allein sein.
Einsamkeit wird für immer mehr Menschen zur Lebensrealität. Die Kontaktbeschränkungen während der Corona-Pandemie haben den Trend massiv verschärft – besonders bei Alleinlebenden, in Kleinfamilien, bei Alleinerziehenden, in Alten- und Pflegeheimen.

Einsiedlerin Maria Anna Leenen  (dpa)
Einsiedlerin Maria Anna Leenen / ( dpa )
Quelle:
KNA