Seit dem Sturz der Somoza-Diktatur 1979 war Cardenal für Linke der lebende Beweis dafür, dass sich Christentum und Marxismus nicht widersprechen. Damals hatte ein breites Bündnis den seit 1936 an der Macht klebenden Familien-Clan aus dem Land getrieben. Erstmals in der Geschichte erkämpften Christen und Kommunisten gemeinsam einen Machtwechsel. Konservative, auch in der Kirche, sehen in Cardenal den gefährlichen Vorkämpfer einer falschen Bibelauslegung, die dem Katholizismus weltweit schweren Schaden zufügt.
Für weltweites Aufsehen sorgte der Mann mit den langen weißen Haaren und der Baskenmütze noch einmal, als er Mitte der 1990er Jahre aus der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) austrat. Cardenal verglich Präsident Daniel Ortega mit Adolf Hitler. In der Partei seien Wahlmanipulation, Diebstahl und Korruption an der Tagesordnung. Mit anderen Unzufriedenen gründete er die "Bewegung der sandinistischen Erneuerung" (MRS), um so seinen Überzeugungen treu zu bleiben.
Nach wie vor hält Cardenal Christentum und Marxismus für miteinander vereinbar. Und für die nächsten 100 Jahre prognostiziert Cardenal, dem freundschaftliche Kontakte zum venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez nachgesagt werden, das "Jahrhundert eines marxistischen Christentums". Die wichtigste Entscheidung seines Lebens sei, dass er sich Gott verschrieben habe "und damit auch dem Volk und der Revolution".
Solche Bekenntnisse tragen nicht dazu bei, sich mit seinen kirchlichen Vorgesetzten auszusöhnen. Unüberbrückbar scheinen auch Jahrzehnte nach Ende des sandinistischen Experiments die Gegensätze zu sein. So ist alles beim Alten: Cardenal ist Priester, will auch nicht laisiert werden, darf aber weder Messe lesen noch Beichte hören. Der Konflikt ist kennzeichnend für eine Ortskirche, in der nach Ansicht von Beobachtern eine Art kalter Krieg herrscht.
Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Heute kümmert sich der einstige Novize des US-Trappistenklosters Gethsemany und Freund des Dichtermönchs Thomas Merton um die mit Ex-Showmaster Dietmar Schönherr gegründete "Casa de los tres mundos". Das "Haus der drei Welten" in der einstigen spanischen Kolonialstadt Granada am Nicaragua-See will die in dem Land verschmolzenen europäischen, indianischen und afrikanischen Kulturelemente miteinander ins Gespräch bringen.
1966 hatte Cardenal auf der Insel Solentiname im Nicaragua-See eine an radikal-urchristlichen Idealen orientierte Gemeinschaft gegründet. Es entstand das "Evangelium der Bauern von Solentiname", in dem der Philosoph und Theologe vom Bemühen der Menschen erzählte, ihr Leben im Licht der Botschaft Jesu zu deuten.
1977 floh Cardenal nach Costa Rica und warb um Unterstützung für die Sandinisten. Zwei Jahre später trat er als Minister in Ortegas Revolutionsregierung ein. 1985 verbot ihm der Vatikan die Ausübung seines priesterlichen Dienstes - zwei Jahre zuvor hatte Cardenal Papst Johannes Paul II. bei dessen Besuch im Dom von Managua noch ein "Viva la revolucion" entgegengerufen.
1980 erhielt Cardenal den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Weitere Auszeichnungen folgten. Vor ein paar Jahren erschien "Im Herzen der Revolution", der dritte und letzte Band seiner Autobiografie. Neben Berichten über Gespräche mit Ajatollah Khomeini, Muammar Gaddafi und Willy Brandt schreibt Cardenal über seine Hoffnung, dass die von Gott erwartete Revolution kommt. Typisch Cardenal: Während die einen mit dem Buch nichts anfangen können, priesen ihn andere als "Begründer der mystischen lateinamerikanischen Literatur" und als einen "der originellsten christlichen Mystiker des 20. Jahrhunderts".
Ernesto Cardenal kommt letztmals nach Deutschland
Mystiker, Marxist, Christ
An ihm scheiden sich bis heute die Geister: Ernesto Cardenal - Priester, Mystiker, Widerstandskämpfer, Revolutionär, Marxist und Ex-Kulturminister Nicaraguas. Im Oktober geht Cardenal noch einmal mit der lateinamerikanischen Musikband Grupo Sal auf Konzertlesereise durch Deutschland, Österreich und Luxemburg. Zwar vermeidet das Management den Begriff, doch in Tübingen gehen alle davon aus, dass die Tour vom 5. bis 21. Oktober die letzte ist, die der dann schon knapp 88-Jährige in Europa unternehmen wird.
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