Professor Harald Dreßing befasst sich seit mehr als einem Vierteljahrhundert mit Straftaten im Umfeld des sexuellen Missbrauchs. Der 61-Jährige kennt alle Varianten von Übergriffen und spricht auch über schwere Straftaten ruhig und mit professioneller Distanz. Doch selbst Dreßing äußert sich "erschüttert" über das, was die von ihm geleitete, umfangreiche Studie über sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche zutage gefördert hat. Das betrifft vor allem den Umfang und die Schwere der Straftaten. Die gefundenen 3.677 Betroffenen und 1.670 Beschuldigten aus Akten der Jahre 1946 bis 2014 sieht er nur als "Spitze des Eisbergs". Mit Nachdruck spricht Dreßing von der Vermutung, dass es offenbar systemische Faktoren gibt, die den Missbrauch in der Kirche fördern. Rund 200 Journalisten verfolgten am Dienstag in Fulda Dreßings Ausführungen; auch ausländische Korrespondenten waren akkreditiert.
Die Resultate der Studie werden international beachtet, weil die katholische Kirche in Deutschland in der Weltkirche eine exponierte Rolle einnimmt. Durch ihre enormen finanziellen Ressourcen, ihre führende Rolle in der Theologie und ihre materielle Unterstützung ärmerer Ortskirchen ist sie international bedeutend.
Vorab über die Ergebnisse der Studie unterrichtet
Hinzu kommt die Rolle des Bischofskonferenz-Vorsitzenden, Kardinal Reinhard Marx, im Vatikan. Im Neuner-Rat der Kardinäle, die Papst Franziskus beraten, ist er einer der Wortführer. Es war daher nicht überraschend, dass Marx das Kirchenoberhaupt vorab über die Ergebnisse der Studie unterrichtete. Zeitgleich ließ die Deutsche Bischofskonferenz eine Übersetzung ins Englische und Italienische anfertigen. Zudem kündigte Marx in Fulda an, die deutschen Bischöfe würden bei der im Oktober in Rom tagenden Synode zum Thema Jugend das Thema erneut ansprechen.
Die Bischöfe haben in Fulda am Dienstag mit einer langen Debatte über Ergebnisse und Konsequenzen aus der Forschungsarbeit begonnen. Die Stimmung wurde von Beobachtern als "angespannt" beschrieben. Nachdem es in den vergangenen Wochen zunächst kritische Stimmen in Richtung der Medien gegeben hatte, weil diese die offizielle Veröffentlichung nicht abgewartet hatten, richtet sich nun der Blick in die eigenen Reihen. Zentrale Figur neben dem Vorsitzenden Marx ist der Trierer Bischof Stephan Ackermann.
Ackermann: "Ich habe das Ergebnis leider erwartet."
Er hat seit acht Jahren als "Missbrauchsbeauftragter" unermüdlich dafür geworben, das Thema ernst zu nehmen und es nicht - wie dies der langjährige Vorsitzende Kardinal Karl Lehmann einst tat - als rein "amerikanisches Problem" abzutun. Bei der Vorstellung des Forschungsberichts sagte Ackermann nüchtern: "Ich habe das Ergebnis leider erwartet." Zugleich kündigte er an, er werde den "Weg der Bekämpfung des Missbrauchs beharrlich fortsetzen".
Ackermanns Einfluss auf andere Bischöfe ist kirchenrechtlich minimal. Dennoch hat er durch die Studie mehr denn je eine Schlüsselrolle. Von ihm werden nun Vorschläge erwartet. Außer dem erneuten Freischalten eines zentralen Beratungstelefons will Ackermann noch etliche Maßnahmen anregen. Dazu zählt die konsequente Anwendung der bereits bestehenden Richtlinien zur Missbrauchs-Prävention, die laut Studie noch immer nicht in allen Bistümern umgesetzt wurden. Handlungsbedarf besteht auch bei der Bereitschaft der Bischöfe, sich mit Opfern zu treffen. Was die Päpste seit 2008 bei vielen Auslandsreisen getan haben, haben bislang nur wenige deutsche Bischöfe nachgemacht.
Verbesserung der Entschädigungs-Zahlungen in Aussicht gestellt
Als weitere Schritte stellte Ackermann in Fulda eine Verbesserung der Entschädigungs-Zahlungen in Aussicht. Marx ergänzte, man werde auch über die Schaffung von "Wahrheits-Kommissionen" nachdenken, um nach der Erforschung nun auch die Aufarbeitung des Geschehens voranzubringen.
Den heikelsten Punkt in der Debatte können allerdings nur die einzelnen Bistümer eigenverantwortlich umsetzen. Es ist die Beantwortung der Frage, welche Bischöfe, Generalvikare und Personalleiter in welchem Umfang mitschuldig wurden, indem sie Strafverfolgung vereitelt haben. Auch die früher gängige Praxis der Versetzung von Tätern in andere Pfarreien oder Bistümer gehört in diesen Kontext.
Marx bekennt eigene Schuld als Priester und Bischof
Bei der Vorstellung der Studie bekannte Marx eigene Schuld als Priester und Bischof. Auch er habe das Geschehene nicht wahrhaben wollen, habe "nicht zugehört und weggeschaut". Auch habe er lernen müssen, dass die 2002 verabschiedeten Richtlinien der Deutschen Bischofskonferenz nicht streng genug gewesen seien. Deshalb seien sie 2010 verschärft worden.
Für die Zukunft kündigte Marx an, dass die katholische Kirche über eine Änderung des Kirchenrechts nachdenken sollte, um mehr Gewaltenteilung zu schaffen und damit bessere Kontrollmechanismen in der Kirche zu ermöglichen. Die Journalistenfrage nach möglichen Rücktritten von einzelnen Bischöfen wegen eigenen Versagens oder Fehlverhaltens beantwortete Marx jedoch mit einem klaren «Nein».