KNA: Pater Löwenstein, am Aloisiuskolleg soll ein Erinnerungsort für die Betroffenen von Missbrauch eingerichtet werden. Welche Hoffnungen oder Erwartungen verbinden Sie mit diesem Ort? Und warum ergreift das Kolleg hier als erste der bundesweit drei Jesuitenschulen eine solche Initiative?
Pater Martin Löwenstein SJ (Jesuit und Rektor des Aloisiuskollegs in Bonn): Das hat mit der besonderen Situation am Aloisiuskolleg zu tun. Hier endete die Missbrauchsgeschichte leider erst im Jahr 2010. Entsprechend muss sich diese Schule als Institution bleibend intensiv damit auseinandersetzen. Aber auch an den anderen Jesuitenschulen gehört die intensive Auseinandersetzung mit diesem Teil der Vergangenheit fest dazu.
KNA: Wie könnte der Ort aussehen und wo wäre ein geeigneter Platz dafür auf dem Schulgelände?
Löwenstein: Dazu, wie der Erinnerungsort in Godesberg aussehen könnte, kann und will ich noch nichts sagen, auch wenn ich natürlich Ideen habe, denn wir wollen ja einen offenen Prozess unter der Beteiligung möglichst vieler. Für uns ist nur wichtig, dass der Ort und die Gestaltung dazu führen, dass sich die Schule auch in Zukunft mit dem Thema auseinandersetzt und es kein "totes Denkmal" wird.
KNA: Wie wollen Sie diesen offenen Diskussionsprozess gestalten?
Löwenstein: Statt als Kollegsleitung den Austausch und Umsetzungswege zu organisieren, erachten wir es als sinnvoller, wenn eine externe Person zusammen mit Betroffenen, weiteren Altschülerinnen und Altschülern und uns als heutiger Kollegsgemeinschaft diesen Prozess moderiert und strukturiert. Wir werden uns an den Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs wenden und um Unterstützung hierbei bitten.
KNA: Was passiert mit dem Friedhof der Patres auf dem Schulgelände? Dort liegt ja auch der 2010 verstorbene Pater S. begraben, dem zahlreiche Fälle von Grenzüberschreitungen zur Last gelegt werden.
Löwenstein: Der Denkmalschutz hat eine Aufhebung oder Umgestaltung des Friedhofs trotz meiner Bitte und dem Hinweis auf die Zusammenhänge abgelehnt. Ich kann für mich und das Kolleg entscheiden und öffentlich sagen, dass ich den Betroffenen glaube - aber ich kann und werde mich nicht zum Richter machen, der über dem Grab eines Verstorbenen sein Urteil fällt.
KNA: Sie schreiben in dem Elternbrief, dass manches "gerade auch bei den Jesuiten" noch geschehen muss, "damit wir am Ako hier wirklich weiterkommen" - was genau meinen Sie damit?
Löwenstein: Es haben 2010 Verantwortliche Stellung bezogen - insbesondere die früheren Provinziäle Alfons Höfer und Rolf-Dietrich Pfahl sehr deutlich und selbstkritisch. Andere haben das bis heute nicht geschafft. Ihre Namen und Verantwortlichkeiten sind in unseren Berichten und Publikationen benannt, denn der Jesuitenorden hat sich seit 2010 der Pflicht zur Wahrheitsfindung gestellt, wie an zwei sehr ausführlichen, seit zehn Jahren im Internet veröffentlichten unabhängigen Aufarbeitungsberichten zu sehen ist. Aber ich wünsche mir, dass die Zusammenhänge und strukturellen Ursachen noch deutlicher zutage treten; dazu wären unter Umständen auch Aufarbeitungs-Strukturen von staatlicher Seite sehr hilfreich.
KNA: Das heißt?
Löwenstein: In den letzten elf Jahren hat uns auf allen Ebenen und in unzähligen Gesprächen die Erkenntnis begleitet, dass es neben der Schuld von Personen auch Strukturen, Binnenkulturen und Mentalitäten gegeben hat, die den Missbrauch nicht verhindert, an manchen Stellen sogar erleichtert haben. Da gibt es nicht den einen Hebel, den man umlegt, und dann ist alles gut. Vielmehr begleitet uns die Auseinandersetzung mit der Gewalt, die geschehen ist, dort wo wir heute handeln: in der Pädagogik, in der Seelsorge, in der Leitungsverantwortung, in den Begegnungen aber auch in der Erneuerung von Strukturen, in der Weise wie wir von uns selber denken, aber auch im Umgang mit der schmeichelnden aber bisweilen auch problematischen Anerkennung, mit der uns manche begegnen.
KNA: Was ist also tun?
Löwenstein: Soweit ich sehe, entwickelt sich in Deutschland momentan eine Bereitschaft der Politik, Strukturen zu schaffen, die uns und andere Institutionen von außen und mit der nötigen Unabhängigkeit sieht, Vergangenheit aufarbeiten und helfen kann, die Prävention, die für uns wie in fast allen Teilen der katholischen Kirche im letzten Jahrzehnt zum festen Bestandteil geworden ist, daran zu messen und sie kontinuierlich zu verbessern.
KNA: Seit exakt 100 Jahren führt das Aloisiuskolleg seinen Namen - und steht vor großen Veränderungen. Dafür steht auch der Verkauf der Stella Rheni, einer geschichtsträchtigen Villa, in der einst auch der Dichter Rainer Maria Rilke zu Gast war. Wofür soll der Erlös aus dem Verkauf verwendet werden?
Löwenstein: Das Aloisiuskolleg hat kein Internat mehr, ist aber eine gut nachgefragte Schule. Wie ganz viele ehemalige Internatsschulen tragen die frei gewordenen Immobilien dazu bei, eine freie Schule zu erhalten. Im Fall der Stella war für uns und den Orden aber von vornherein klar, dass der Erlös auch beitragen muss zu den jetzt deutlich erhöhten Anerkennungszahlungen an Betroffene innerhalb des mit der Deutschen Bischofskonferenz vereinbarten Verfahrens zur Anerkennung des Leids.
KNA: Wie würden Sie aktuell den Kontakt zur Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch" umschreiben, die ja bereits Stellung zu den jüngsten Plänen am Aloisiuskolleg bezogen hat?
Löwenstein: Es gibt seit 2010 den "Eckigen Tisch" und hier persönliche Kontakte; er ist eine wichtige Stimme von Betroffenen in Deutschland. Einige Altschüler des Aloisiuskollegs haben 2014 daneben den Verein "Eckiger Tisch Bonn" (ETB) gegründet und von sich aus 2018 erklärt, die Kommunikation mit den Jesuiten abzubrechen. Daher mussten wir, weil wir bei der Aufarbeitung weiterkommen wollen, die letzten Schritte ohne Rücksprache mit dem ETB setzen, sind aber in Kontakt mit anderen Betroffenen. Wir sind und bleiben an einer Kommunikation mit dem ETB interessiert und hoffen, dass der Erinnerungsort in Godesberg gemeinsam mit Betroffenen und auch dem ETB entstehen kann.
Das Interview führte Joachim Heinz.