"Es werden mehr Menschen an Armut sterben als an Corona", befürchtet Pater George Kannanthanam. Und Pater Mario Mendes schildert die dramatische Situation in den überfüllten Krankenhäusern von Mumbai (Bombay) mit dem erschreckenden Satz: "Man kann sich nicht erlauben, krank zu werden." Der Redemptorist Kannanthanam aus Bangalore ist Generalsekretär des Verbands der katholischen Gesundheitseinrichtungen Catholic Coalition for Health, während Mendes das Caritas-Zentrum der Erzdiözese Mumbai leitet.
"Ich fürchte, dass wir bald vielleicht keine Gehälter mehr zahlen können"
Die Caritas-Mitarbeiter leisten rund um die Uhr humanitäre Corona-Hilfe für die Armen in den Slums, in denen gut 40 Prozent der Einwohner Mumbais leben. Wie lang das Zentrum finanziell noch durchhalten kann? "Je länger die Einschränkungen des Wirtschaftslebens dauern, desto mehr verlieren Arme, Tagelöhner und Migrantenarbeiter sowie zunehmend auch Menschen der Mittelschicht ihre Arbeit oder befürchten einen Jobverlust", sagt Mendes.
Das wirke sich auch auf die Spendenbereitschaft aus. "Ich fürchte, dass wir bald vielleicht keine Gehälter mehr zahlen können." Jiji Vattapparambil, Pfarrer der deutschsprachigen katholischen Gemeinde in Neu Delhi, spricht von einem "Überlebenskampf" der Menschen in der indischen Hauptstadt.
Premierminister Narendra Modi wird für die Lockerung des strikten Lockdown kritisiert, erfährt aber auch Verständnis. Die Regierung, so politische Beobachter, habe nur die Wahl zwischen Teufel und Beelzebub - also zwischen einer Zuspitzung der Wirtschafts- und Finanzkrise oder einer Explosion der Infektionszahlen durch eine Wiederbelebung der Wirtschaft. Die Arbeitslosenrate ist von 24 Prozent im Mai auf 11,6 Prozent Mitte Juni zurückgegangen.
Wirbelsturm Amphan habe schlimmere Schäden als Corona angerichtet
Die Caritas der Erzdiözese Kolkata (Kalkutta) hat andere Sorgen. "Corona ist bei uns nicht das große Thema. Kolkata ist wirtschaftlich nicht bedeutend und zieht somit nicht so viele Menschen aus Indien und anderen Teilen der Welt an", sagt der Leiter, Pater Franklin Menezes. "Wir sind in vollem Einsatz bei der Hilfe für die Betroffenen des Wirbelsturms Amphan, der schlimmere Schäden als Corona angerichtet hat." Amphan war Mitte Mai mit bis zu 185 Stundenkilometern über Westbengalen gerast.
Pater Kannanthanam zeichnet ein zwiespältiges Bild der Lage der Krankenhäuser. Die Regierung habe Corona-Schwerpunktkliniken eingerichtet und dafür in Absprache mit der Kirche auch rund 20 katholische Krankenhäuser übernommen. Kannanthanam weiß aber auch, dass Indiens Gesundheitswesen am Rande des Zusammenbruchs steht.
"Während des Lockdown durften die Krankenhäuser nur Notfälle aufnehmen. Das führte zu einem Einkommensverlust. Viele Krankenhäuser
können jetzt keine Gehälter mehr zahlen. Ärzte arbeiten nicht mehr in Vollzeit, kündigen oder streiken."
Erstkommunion und Firmung mussten abgesagt werden
Pfarrer Vattapparambil hat nach 19 Jahren als Priester in Deutschland - zuletzt in einer Gemeinde in Duisburg - erst im Dezember seinen Posten in Indien angetreten. Vom Lockdown wurde der gebürtige Inder bei einem Besuch der Eltern in Kerala erwischt, wo er nun seit Monaten festsitzt.
"Es gibt keine Flüge mehr. Ich kann nicht nach Delhi zurück." Mit seinen Gemeinden in Delhi, Mumbai, Bangalore und Chennai hält er über das Internet Kontakt. "Das wäre auch nicht anders, wenn ich in Delhi wäre." Kirchen und Schulen waren während des Lockdown geschlossen, Versammlungen verboten; Erstkommunion und Firmung, für Mitte April geplant, mussten abgesagt werden.
Niemand ist vor dem Virus sicher. Der Gesundheitsminister des Bundesstaates Delhi ist infiziert, und am 11. Juni wurde Delhis früherer Erzbischof Vincent Michael Concessao mit Covid-19 ins Krankenhaus gebracht. Eine Entspannung der Lage ist nicht in Sicht. Derzeit ist der Bundesstaat Maharashtra mit seiner Hauptstadt Mumbai mit mehr als 110.000 der landesweit 367.000 Coronafälle klar vorne bei den Infektionen. Experten befürchten aber, dass bis Ende Juli allein in Neu Delhi mehr als eine halbe Million Menschen infiziert sein könnten.
Von Michael Lenz