DOMRADIO.DE: Herr Professor Bönig, die Kölner Orgelfeierstunden sind in der ganzen Welt bekannt und angesichts ihrer Besucherzahlen einmalig. Der exzellente Ruf dieser Kulturveranstaltung auf Spitzenniveau lässt sich nur über eine stimmige Qualität definieren. Dafür beginnen Sie immer schon ein Jahr im Voraus zu planen, indem Sie Einladungen an internationale Kollegen aussprechen. Welche Interpreten standen diesmal ursprünglich einmal auf dem Programm?
Winfried Bönig (Kölner Domorganist): Die gute Nachricht ist: Die Orgelfeierstunden finden trotz Corona statt – wenn auch nur mit kleinem Publikum. Wir werden jedes der zwölf Konzerte über DOMRADIO.DE und das Internet live streamen. Von daher geht erst einmal nichts verloren. Aber durch die derzeitigen Reisebeschränkungen können nun die Kollegen aus Japan, dem Oman, aus England und Schweden nicht mit dabei sein, was ich sehr bedaure, weil sie wirklich ein tolles Programm zusammengestellt hatten. Aber sie sind nun bereits fürs nächste Jahr wieder eingeladen. Diesbezüglich muss ich die Zuhörer also auf den Sommer 2021 vertrösten.
DOMRADIO.DE: Das ist auch insofern bedauerlich, als sich diese Konzertreihe, die einst von Domorganist Josef Zimmermann aus der Taufe gehoben wurde, in diesem Jahr zum 60. Mal jährt; für eine kulturelle Institution ein schon eher ungewöhnlicher Geburtstag, den Sie sicher auch gerne gebührend gefeiert hätten…
Bönig: Dass dieser 60. Orgelzyklus im Jubiläumsjahr nicht ausfällt, macht mich ausgesprochen froh und dankbar – auch angesichts der vielen Kulturveranstaltungen, die bis weit in den Herbst gerade weltweit nicht realisiert werden können. In der Tat hat die Pandemie unsere Pläne durchkreuzt, aber wir werden dieses Jubiläum trotzdem feiern. Eben mit einer anderen illustren, aber durchaus gleichwertigen Runde, die ich nun aus einer Reihe deutscher Kollegen zusammengestellt habe. Es musste halt schnell improvisiert werden, als sich abzeichnete, dass der ursprüngliche Plan nicht aufgehen würde. Und die Organisten, die nun in den Sommermonaten in unserem Dom auftreten werden, sind allesamt renommierte Domorganisten und – was die evangelischen Kollegen angeht – Vertreter bedeutender protestantischer Kirchen, wie aus Lübeck, Dresden und Mannheim. Alle haben mit großer Freude zugesagt, weil ja auch ihnen gerade internationale Auftritte wegbrechen und in ihrem Kalender dadurch – unser Glück – etwas frei geworden ist. Ich bin davon überzeugt, das wird ein genauso buntes Festival wie immer. Denn jeder bringt sein ganz eigenes Profil mit. Alle spielen im internationalen Konzertleben in der ersten Reihe mit und lassen spannende Abende erwarten. Da werden wie immer tolle Überraschungen mit dabei sein. Jedenfalls steigert das, was ich bisher an Programmen gesehen habe, auch meine eigene Vorfreude auf dieses Geburtstagsfest.
DOMRADIO.DE: Worauf dürfen die Zuhörer musikalisch denn gespannt sein?
Bönig: Das ist wie immer eine Mischung aus allen Epochen, angefangen im 16. bis einschließlich 21. Jahrhundert. Ein Schwerpunkt der Programme liegt auf der deutschen und französischen Romantik. Besonders wird hier an den 150. Geburtstag von Louis Vierne erinnert, der für uns Organisten einer der bedeutendsten überhaupt ist. Von ihm sind gleich in mehreren Konzerten Werke zu hören. Aber 2020 bietet ja noch mehr "runde Zahlen": Neben dem alles überstrahlenden Beethoven, dessen 250. Geburtstags ich im Eröffnungskonzert am 16. Juni besonders gedenke – auch wenn ich mich dazu entschieden habe, keine Bearbeitungen seiner Stücke zu spielen, denn er selbst hat ja trotz seiner Tätigkeit als Hoforganist in Bonn keine Orgelmusik geschrieben – sind dies auch Charles Tournemire oder Paul Hindemith, von denen ich Kompositionen herausgesucht habe. Darüber hinaus gehören Dupré, Norman Coke-Jephcott, gestorben 1962, und Gerard Bunk, ein deutsch-niederländischer Organist, dazu. Sie alle haben in ihren Werken Themen von Beethoven aufgegriffen und verarbeitet.
DOMRADIO.DE: Und was spielen die Kollegen?
Bönig: Grundsätzlich gleicht auch in diesem Sommer kein Programm dem anderen; Vielfalt ist mir ganz wichtig: Jeder hat freie Hand und darf gerne seine Paradestücke mitbringen. Das heißt, Bach kommt genauso zu seinem Recht wie etwa Max Reger oder Franz Liszt. Enjott Schneider, der in diesem Jahr seinen 70. Geburtstag feiert und der die Orgelliteratur in den vergangenen Jahren mit bedeutenden Werken bereichert hat, ist mit einer seiner großen Orgelsinfonien zu hören, gespielt vom Regensburger Domorganist Franz Josef Stoiber. Und dann setzt einen besonderen Akzent seit jeher die Improvisation, die einige der Interpreten meisterhaft beherrschen.
DOMRADIO.DE: Für die Halbzeit des diesjährigen Orgelzyklus haben Sie sich etwas ganz Besonderes ausgedacht…
Bönig: Am 28. Juli gibt es eine musikalische Domführung mit Dombaumeister Peter Füssenich. Mit einer Kamera wird er einzelne Kunstwerke des Domes in den Fokus rücken und diese erklären, während ich jeweils Orgelliteratur aus der dazu gehörigen Epoche spiele. Enden wird dieser Rundgang am Richter-Fenster. Dieses Zusammenspiel, wenn sich Musik mit Architektur verbindet, ist meines Erachtens besonders berührend – ganz nach dem Motto: Musik ist klingende Architektur, und Architektur ist Stein gewordene Musik. Eine solche Idee trage ich schon lange mit mir herum. Nun macht das ausgerechnet Corona möglich.
DOMRADIO.DE: 60 Jahre – das ist eine lange Zeit, in der die Begeisterung für Orgelmusik im Kölner Dom ungebrochen ist. Was sind das für Menschen, die Ihnen teils jahrzehntelang die Treue halten?
Bönig: Das ist ein sehr spezielles, aber durchaus auch gemischtes Liebhaber-Publikum, das zum Teil von weit her – sogar aus den angrenzenden Benelux-Ländern – anreist. Es ist weniger der typische Tourist als vielmehr eine versierte Fan-Gemeinde, die über die Jahre zu einem festen Stamm zusammengewachsen ist und geradezu als Fachpublikum, das stets andächtig und konzentriert lauscht, auch von den Gastorganisten selbst wegen dieser außergewöhnlichen Disziplin stets gelobt wird. Schon zu Beginn des Jahres erreichen mich Mails, in denen nach den Künstlern der Orgelfeierstunden gefragt wird. Das ist ja auch wirklich spannend. Manche stellen sogar ihre Urlaubs- und Jahresplanung auf die Termine der Orgelfeierstunden ab.
DOMRADIO.DE: Alle Domkonzerte sind grundsätzlich kostenlos. Trotzdem entstehen hohe Kosten, die zumindest teilweise über Spenden am Ende eines Konzertes gedeckt werden. Nun steht zwar auch in diesem Jahr am Ausgang wieder jemand mit einem Körbchen, aber angesichts der geringen Besucherzahl, die zugelassen ist, werden sicher kaum große Summen zusammenkommen…
Bönig: Wir vertrauen darauf, dass den Menschen dieser außergewöhnliche Kunstgenuss etwas wert ist. Daher wirbt die Kulturstiftung Kölner Dom, die die 60. Ausgabe der Orgelfeierstunden ermöglicht, auch außerhalb jedes einzelnen Konzertabends um Spenden. Denn ein solches kulturelles Highlight hat natürlich auch seinen Preis, und der Dom hat zurzeit keinerlei Einnahmen. Schließlich gastieren im Dom nur anerkannte Musiker mit eher außergewöhnlicher Expertise. Und da fallen immer Reise- und Logis-Kosten an.
DOMRADIO.DE: Ein gestreamtes Konzert ist leider ja nun nicht dasselbe wie das unmittelbare Erleben in einem bis auf den letzten Platz gefüllten Dom. Wie erfahren Sie zurzeit den leeren Kirchenraum?
Bönig: Jeder Künstler spielt primär für ein Live-Publikum. Da ergeht es uns nicht anders als den Theaterschauspielern, die immer auf die unmittelbare Resonanz aus dem Publikum angewiesen sind. Das Publikum ist nun mal die Welt. Dafür machen wir das. Auch wenn wir jetzt mit dem Streamen nur den zweitbesten Weg gefunden haben, freue ich mich sehr, dass am Dom sofort die Bereitschaft zu spüren war, dieses Gotteshaus trotz Corona-Krise und den damit verbundenen Auflagen während der Sommerwochen als Kulturort präsent zu halten und durch die finanzielle Unterstützung der Kulturstiftung an diesem Konzertangebot festhalten zu wollen. Da im Moment alle Chormusik ausfallen muss, ist es umso erfreulicher, dass nun wenigstens die Orgelkonzerte stattfinden können.
Natürlich herrscht während der Sonntagsgottesdienste zurzeit eine sehr besondere Atmosphäre im Dom. Auch wenn nun 122 Besucher zur Messe und 100 zum Konzert zugelassen sind, ist die große Kirche gefühlt leer. Dabei ist es das Wesen der Liturgie, dass sich die Menschen versammeln. Der Musik fällt dabei die Aufgabe zu, die Menschen zu berühren und sie in ihrem Glauben zu stärken. Der jetzige Zustand ist und bleibt eine Notlösung. Ich hoffe, alles wird schon bald wieder so möglich sein, wie es eigentlich gedacht ist. Musik ist eine Sprache, sie will uns etwas sagen. Aber dafür bedarf es eines Echos, das nun mal die Gottesdienstbesucher sind. Insofern ist eine gestreamte Messe wie Telefonieren. Ein Telefonat ersetzt auch nicht den unmittelbaren Kontakt, das konkrete Treffen.
DOMRADIO.DE: Demnach ist Musik für Sie ein ganz wesentliches Kommunikationsmittel in der Liturgie?
Bönig: Zweifelsohne, auch wenn es so viele unterschiedliche Kommunikationswege zwischen Himmel und Erde gibt, die nicht zu erklären ist. Entscheidend ist doch, dass man weiß, dass die Menschen im Moment vor ihren Empfangsgeräten sitzen und mit einem verbunden sind – auch wenn sie nicht sichtbar sind. Aber man kann sie spüren und jeden Einzelnen erreichen. Das ist zwar ein nicht messbarer Zustand eines Dialogs, aber es ist ein Dialog. Das Herz sucht sich eben mitunter ganz andere Wege als die, die sich auf den ersten Blick offenbaren. Da habe ich grenzenloses Vertrauen.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti.