DOMRADIO.DE: Wie haben Sie die Situation am Flughafen von Kabul erlebt?
Stefan Recker (Leiter des Caritas-International Büros in Kabul): Ja, das ist in der Tat wirklich vergangenen Dienstag, dem 17. August, schlimm gewesen, und die Situation spitzt sich zu. Immer mehr Menschen versuchen, zum Flughafen zu kommen, um irgendeine Möglichkeit der Ausreise zu ergattern. Für mich ging das alles noch. Das war noch relativ harmlos. Ich musste etwa 600 Meter laufen. Wir konnten nicht hinfahren. Da waren dann sehr viele Menschen unterwegs. Es wurde geschossen an diesem Tor. In die Luft. Aber eine Kugel, die in die Luft gefeuert wird, kommt auch irgendwann wieder runter und kann schwere Verletzungen verursachen.
Die Situation war unübersichtlich, sehr unkontrolliert. Da waren viele Sicherheitskräfte, die afghanische, reguläre Armee hat dieses Tor bewacht. Und des waren auch amerikanische Soldaten dabei. Ich habe dann irgendwann meinen Pass in die Luft gehalten, da hat mich ein amerikanischer Soldat aus dieser Menge rausgezogen, und mich quasi hinter diese Doppellinie von afghanischen Soldaten abgestellt. Da hab ich dann noch eine halbe Stunde gewartet. Gepäck wurde durchsucht. Und dann wurden wir halt irgendwann reingelassen. Dann hat das nochmal vier Stunden gedauert, bis wir hinter dem Bundeswehr-Airbus standen, der uns da rausgeflogen hatte.
DOMRADIO.DE: Was ist Ihnen da durch den Kopf gegangen in diesen vier Stunden?
Recker: Die Sorge um meine afghanischen Kolleginnen und Kollegen, die natürlich Angst haben vor Repressalien durch die Taliban, die Angst haben vor der Situation. Ich wollte eigentlich auch gar nicht ausreisen, dann kam die Dienstanweisung von Caritas International, dem Hilfswerk des Deutschen Caritasverbandes, dass ich ausreisen muss. Dann habe ich dieser Anweisung Folge geleistet und war dann tatsächlich auf dem zweiten Evakuierungsflieger der Bundeswehr.
DOMRADIO.DE: Warum wollten Sie bleiben?
Recker: Damit ich näher bei den afghanischen Kolleginnen und Kollegen sein kann, damit ich das Programm steuern kann. Wir haben immer noch 27 afghanische Kolleginnen und Kollegen dort in Afghanistan. Diese Sorge bewog mich eigentlich dazu, dort bleiben zu wollen. Aber wie gesagt, jetzt muss ich das von hier aus machen. Ich bin in Kontakt mit denen und wir kümmern uns, darum, dass sie ausgeflogen werden, sobald es geht.
DOMRADIO.DE: Wie sah der Alltag in Kabul denn kurz vor Ihrer Abreise aus? Wie kann man sich das vorstellen?
Recker: Ich bin halt nicht groß rausgegangen aus unserem Hof, wo wir unser Büro haben, wo ich aber auch wohne. Einfach um keine Aufmerksamkeit auf unser Büro zu ziehen. Die meisten haben überhaupt keine westlichen Sachen mehr angezogen, um nicht aufzufallen, sondern nur noch afghanische Sachen. Und ich als Westler wäre aufgefallen, wenn ich jetzt afghanische Kleidung getragen hätte, einfach durch Körperumfang, Brille, Haarschnitt und so weiter und so fort.
Das Leben ist schwieriger geworden. Das Hauptproblem ist, dass die Banken zugemacht haben, weil sie keine Liquidität mehr von der Zentralbank bekommen und die Angst vor Plünderungen haben. Und jetzt hat kein Mensch richtig Geld. Preise haben angezogen und das Leben ist noch teurer geworden. Das sind die Hauptprobleme, die die Menschen haben. Plus die vielen Binnenvertriebenen, die sich nach Kabul geflüchtet haben.
DOMRADIO.DE: Gerade von Menschenrechtsorganisationen wird Alarm geschlagen, wie dramatisch die Lage für Frauen, Journalisten oder Hilfsorganisationen sei. Wie schätzen Sie die Lage ein?
Recker: Das kann ich nicht wirklich sagen. Meine afghanischen Kolleginnen und Kollegen sind nicht unmittelbar bedroht. Zumindest glaube ich das. Die Taliban senden starke Signale aus, dass sie an der Arbeit der Hilfsorganisation, der Humanitären- und Entwicklungsorganisationen sehr stark interessiert sind. Ich weiß nicht, was es da für Repressalien gegen Menschenrechtsaktivisten und Frauenrechtlerinnen gibt. Es gibt viele Gerüchte. Für mich ist es auch schwer, da zwischen Gerücht und Wahrheit zu unterscheiden. Ich weiß nicht, wie groß die Bedrohungslage für diese Menschen momentan ist.
DOMRADIO.DE: Jetzt ist das aus der Ferne noch schwerer zu beurteilen, wahrscheinlich.
Recker: Natürlich, klar. Das ist einer der Gründe, warum ich gerne dort geblieben wäre, um einfach mehr zu erfahren vor Ort.
DOMRADIO.DE: Viele Flüchtende versuchen sich jetzt ins Nachbarland, nach Pakistan durchzuschlagen. Die Taliban kontrollieren die großen Grenzübergänge und Pakistan selbst hat vor Wochen schon die Grenzen dicht gemacht. Weshalb strömen noch so viele Menschen dorthin?
Recker: Weil sie Angst haben vor den Taliban, sie haben Angst vor Repressalien. Außerdem glaube ich, dass viele Menschen die Herrschaft der jetzigen Taliban mit der Herrschaft der Taliban in den 90er Jahren assoziieren, was ja nicht verkehrt ist. Aber damals war das Land einfach extrem arm.
Ich habe selbst dort gelebt in den 90er Jahren, Anfang der 2000er Jahre. Ich denke mal, dass es dort auch eine Motivation ist, das Land zu verlassen, um dieser potenziellen größeren Armut noch zu entgehen. Afghanistan hat sowieso eine Menge Probleme, neben den Taliban auch noch eine Dürre und die Wirtschaftssanktionen gegen den Iran. Das sind alles Probleme, die die Lage wirklich noch schlimmer machen.
Das Interview führte Dagmar Peters.