9.000 Selbsttötungen pro Jahr in Deutschland, dazu fast 100.000 Suizidversuche. Vor wenigen Tagen erst ist bekannt geworden, dass der im Alter von 91 Jahren gestorbene französische Starregisseur Jean-Luc Godard Hilfe zum Suizid in Anspruch genommen hat.
Das Thema brennt auf den Nägel, weiß die Vorsitzende des Deutschen Ethikrates, Alena Buyx. Am Donnerstag hat das Gremium in Berlin eine neue Stellungnahme zum Thema Suizid vorgestellt. Und eine Stärkung der Suizidprävention gefordert.
Bundestag soll Neuregelung beschließen
Ethische Beratung ist auch deshalb so dringlich, weil der Bundestag in den kommenden Monaten eine gesetzliche Neuregelung der Beihilfe zum Suizid verabschieden soll. Auslöser ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2020: Damals hatten die Karlsruher Richter ein Grundrecht auf Selbsttötung formuliert - und zwar unabhängig von Alter und Krankheit, das auch die Hilfe anderer Menschen einschließt. Ein Meilenstein der Rechtsgeschichte. Zugleich sprach sich das Gericht für ein Schutzkonzept aus.
Für den Ethikrat sind das zwei Seiten einer Medaille: Gerade wenn die freiverantwortliche Selbsttötung ein grundlegendes Recht sei, müsse die Freiverantwortlichkeit genau geprüft werden, betonte Buyx.
Suizidprävention wichtiger Bestandteil
Äußerer Druck oder Krankheiten müssten ausgeschlossen werden; die Dauerhaftigkeit des Sterbewunsches müsse gegeben sein. Das setze zugleich voraus, dass die Suizidprävention gestärkt werde.
Die Stellungnahme des Ethikrats zeigt anhand von Fallbeispielen eindringlich die unterschiedlichen Gründe, die Menschen zur Selbsttötung treiben: von der Vereinsamung über Krisensituationen bis zu Zukunftsangst und Lebenssattheit. Sie wendet sich gegen eine Glorifizierung des Suizids als Freitod, aber auch gegen die Jahrhunderte praktizierte Verdammung. Und sie macht deutlich, welchen Einfluss gerade persönliche Beziehungen, das Umfeld und die gesellschaftliche Mentalität auf die Entscheidung haben.
Gesellschaftliche Einrichtungen in der Pflicht
Für den Mitautor und katholischen Theologen Andreas Lob-Hüdepohl stehen bei der Prävention neben Angehörigen vor allem die großen gesellschaftlichen Einrichtungen in der Verantwortung. So sollten bei allen ambulanten und stationären Einrichtungen Fachkräfte bereitstehen, "die mindestens die verfügbaren medizinischen, pflegerischen, psychosozialen wie seelsorgerisch-spirituelle Begleitungsangebote vermitteln können". Auch die Politik sei in der Pflicht: etwa durch die Bekämpfung von Altersarmut und Einsamkeit oder durch gute Pflegeangebote.
Tod als vermeintlich kleineres Übel?
Der Ethikrat betont, dass freiverantwortliche Entscheidungen zum Suizid uneingeschränkt zu respektieren seien. Nach den Worten des Sprechers der zuständigen Arbeitsgruppe im Ethikrat, Helmut Frister, entlastet das aber Staat und Gesellschaft "in keiner Weise von der Verantwortung, so weit wie möglich dafür Sorge zu tragen, dass Menschen nicht in Situationen geraten und verbleiben, in denen sie sich genötigt sehen, den Tod als vermeintlich kleineres Übel dem Leben vorzuziehen."
Buyx verschwieg nicht, dass es im Ethikrat durchaus unterschiedliche Bewertungen zu einzelnen Fragen gab: So wendet sich ein Teil der Experten gegen eine weitreichende Pflicht zur Beratung. Ebenso gibt es unterschiedliche Ansichten mit Blick auf die Suizidwünsche Minderjähriger. Einzelne Ratsmitglieder verlangen, im Einzelfall auch Jüngeren den Zugang zur Beihilfe zu ermöglichen. Ebenso sollten psychisch Kranke nicht von vorne herein von einer Beihilfe zur Selbsttötung ausgeschlossen werden, argumentieren manche Mitglieder.
Diskussion um Verantwortung
Wer unter langjährigen chronischen Depressionen leide, könne durchaus verantwortliche Entscheidungen treffen. Differenzen gibt es auch beim Stellenwert von Vorausverfügungen, etwa in Fällen schwerer Demenz.
Das Gutachten geht auch auf die Frage ein, ob etwa Pflegeheime zum Angebot einer Suizidbeihilfe verpflichtet werden können. Vor allem kirchliche Einrichtungen fordern ein Recht, Nein sagen zu können.
Laut Lob-Hüdepohl müssen solche Einrichtungen aber zumindest gewährleisten, dass Suizidwilligen "die Umsetzung einer freiverantwortlichen Entscheidung nicht verwehrt oder verunmöglicht wird" - innerhalb oder außerhalb der eigenen Mauern.
Reaktionen auf Ethikrat
Das Katholische Büro in Berlin erklärte, Deutschland müsse sich "eine Kultur der Lebensbejahung und Fürsorge" erhalten. Alte und kranke Menschen mit Suizidgedanken müssten Beratung und Unterstützung erfahren, so die Vertretung der katholischen Bischöfe bei der Bundesregierung.
Die Deutsche Stiftung Patientenschutz erklärte, die medizinisch-pflegerischen Angebote in Deutschland seien aktuell nicht in der Lage, Selbstbestimmung zu stärken und Fremdbestimmung auszuschließen. "Denn auch Psychotherapie und Würde wahrende Pflege sind für viele sterbenskranke, lebenssatte oder psychisch kranke Menschen unerreichbar", sagte Vorstand Eugen Brysch.
Das Kuratorium Deutsche Altershilfe erklärte, jeder Suizid - mit wenigen Ausnahmen - sei eine Niederlage für die Gesellschaft. "Unser Nachholbedarf an einer Auseinandersetzung mit unserem Leben im Alter und mit dem Tod ist riesig. Wir sollten das Ja zum Leben stärken", sagte der Vorsitzende Helmut Kneppe.
Die Diakonie erklärte, die Suizidvorbeugung gehöre an die erste Stelle. "Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass Menschen in Einsamkeit und seelischer und sozialer Not ihrem Leben ein Ende machen. Vielmehr müssen wir mit ihnen in Beziehung treten, ihre Suizidgedanken annehmen und auch in der Beziehung bleiben, wenn sie einen assistierten Suizid wünschen", erklärte Präsident Ulrich Lilie.
Er begrüßte, dass der Ethikrat die Auffassung bestätigt habe, nach der soziale Einrichtungen nicht verpflichtet seien, assistierte Suizide in ihren Häusern zu dulden, wenn "sich deren Durchführung mit ihrem Selbstverständnis nicht in Einklang bringen lässt und ein Ausweichen der suizidwilligen Person möglich ist".