Experte: Angaben der Bildzeitung irreführend

Nettolöhne wie vor 20 Jahren?

Die Nettoreallöhne der Arbeitnehmer sind nach einem Zeitungsbericht im vergangenen Jahr auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren gesunken. Wie die "Bild"-Zeitung (Montagausgabe) unter Berufung auf eine Statistik des Bundesarbeitsministeriums berichtet, lag der sogenannte Nettorealverdienst nach Abzug von Steuern, Sozialbeiträgen und bei Berücksichtigung der Preisentwicklung im vergangenen Jahr durchschnittlich bei 15 845 Euro im Jahr - etwa so hoch wie 1986 mit damals 15 785 Euro. Rolf Kroker vom Institut der Deutschen Wirtschaft zweifelt diese Rechnung im domradio-Interview allerdings an.

 (DR)

Zum Stand der Nettolöhne in Deutschland müsse man verschiedene Dinge auseinanderhalten, sagt dagegen Rolf Kroker vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln im domradio-Interview. „Zum einen hat es erhebliche Arbeitszeitverkürzungen gegeben. Wenn wir die Einkommen nicht pro Kopf, sondern auf die Stunde rechnen, werden wir feststellen, dass wir keinen Rückgang sondern sogar eher einen Anstieg der Nettoreallöhne haben."
Auch Arbeitszeitverkürzungen seien „wohlstandssteigernd", so Kroker.
Abgaben an den Staat und manche Preise seien zwar durchaus gestiegen, räumt Kroker ein. „Das sich durch den Euro aber im Preis alles verdoppelt habe, ist schlicht nicht zutreffend."

Die Entwicklung in Ostdeutschland ist in den Zahlen gar nicht erfasst. Die Angaben vor 1986 beruhen allein auf Erhebungen in Westdeutschland. Das Online-Magazin "Spiegel" hat nachgerechnet und kommt für Angestellte im Osten auf ein Plus beim Nettolohn von 111 Prozent seit der Wende.
Auch für Westdeutshce angestellte errechnete das Magazin Reallohn-Erhöhungen, vor allem für Angestellte mit Kindern.

Inflation senkt Reallöhne
Die Bild-Zeitung hatte am Montag geschrieben, die Gesamtabzüge vom Bruttolohn hätten im vergangenen Jahr Rekordniveau erreicht. Im Schnitt habe ein Arbeitnehmer 9291 Euro an Lohnsteuer und Sozialbeiträgen gezahlt - so viel wie nie zuvor. 1986 hätten die Abzüge noch bei 5607 Euro gelegen. Die Bruttolöhne seien im gleichen Zeitraum dagegen nur von 22 333 Euro auf 33 105 Euro im Jahr gestiegen. Auch die Inflation habe die Nettoeinkommen gesenkt. So hätten die Löhne in den vergangenen fünf Jahren um 4,1 Prozent zugelegt, die Preise dagegen um 7,1 Prozent.

Vorlage für eine neue Mindestlohn Debatte
Den Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, zitiert das Blatt: "Es gibt dringenden Nachholbedarf für den 'kleinen Mann'" Die Geldbeutel der Menschen seien in den vergangenen Jahren geschröpft worden, und die Lohnsteigerungen mager ausgefallen. "Hauptsache billig - das scheint das Credo vieler Unternehmer zu sein", kritisierte Sommer und forderte in der "Bild" einen gesetzlichen Mindestlohn von mindestens 7,50 Euro pro Stunde.

Eine Mindestlohn-Regelung werde die Probleme auf dem Arbeitsmarkt jedoch nur noch weiter verschärfen, so Rolf Kroker vom Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln im domradio-Interview. „Arbeit, die zum Mindestlohn nicht mehr rentabel ist, wird nicht mehr nachgefragt. Ich denke, dass würde in erheblichem Umfang Arbeitsplätze kosten."

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