domradio.de: Sie waren der erste, der sich nach den Vorfällen öffentlich zu Wort gemeldet hat. Warum hatten Sie den Eindruck, dass da ganz schnell ein Zeichen aus Richtung der Kirche kommen muss?
Pfarrer Dr. Wolfgang Picken, Dechant von Bad Godesberg: Zum einen waren der Schock und die Trauer in Bad Godesberg so erheblich und groß. Das kann man sich ja sicher gut vorstellen, dass wir als Kirche hier vor Ort sofort darüber nachgedacht haben, wie wir für die vielen Trauernden auch eine Gelegenheit der Trauer und der Anteilnahme schaffen.
Dazu gehört vor allem auch die Familie. Also haben wir am Tatort ein Kreuz aufgestellt, ein Kondolenzbuch in der größten Kirche in Bad Godesberg ausgelegt, ein Gottesdienstgedenken organisiert und dann auch natürlich sofort Kontakt mit der Familie aufgenommen, damit die Trauer dann auch Ausdrucksformen finden kann, die den Betroffenen und auch den vielen Bürgern hier helfen.
domradio.de: Sie haben sich zum Thema Angst in einem Zeitungsinterview mit der Bad Godesberger Bezirksbürgermeisterin geäußert. Sie hat den Satz gesagt: "Godesberg wird sicherer". Vielleicht war es doch nur ein Einzelfall - diese Tat am Bahnhof in der Nähe der Rheinallee?
Picken: Es ist absolut kein Einzelfall. Wir wissen, dass gerade an der gleichen Stelle in unmittelbarer Nähe und Umgebung ähnliche Fälle vorgefallen sind - auch in jüngster Vergangenheit. Allerdings nicht mit Todesfolge. Wir hören von Politik und von Polizei, dass die Anzahl der Gewalttaten zurückgegangen sei, aber es ist unser sicherer Eindruck, dass die Form, die Intensität der Gewalt, zugenommen hat. Und das in einem erschreckenden Ausmaße.
Deshalb sind wir auch als Kirche der Auffassung, dass wir uns zum Anwalt dieses Themas machen müssen. Und damit auch die berechtigten Ängste der Bevölkerung aufgreifen. Und wir müssen vor allem dafür Sorge tragen, dass politische Entscheidungen folgen, die verhindern, dass Jugendliche, aber auch Erwachsene sich auf unseren Straßen nicht mehr sicher fühlen. Und wir müssen alles daran setzen, dass solche Dinge durch Gewaltprävention und ähnliches verhindert werden.
domradio.de: Wenn wir Gewalt und den Täterkreis zusammen betrachten, sind wir schnell beim Stichwort "Jugendgewalt". Sie sind in Ihrem Gemeindebezirk sehr aktiv in der Jugendarbeit, beschäftigen viele Mitarbeiter. Im Prinzip könnten Sie sich ja auch erst einmal entspannt zurücklehnen und sagen: "Am Engagement der Kirche im Rheinviertel in Bad Godesberg kann es sicher nicht liegen, dass es hier so zugeht".
Picken: Ja, das wäre natürlich sehr kurz gedacht. Wir sind als Kirche ja ein Teil der gesamten Gesellschaft. Wir können sicherlich mit unserer Arbeit und der hohen Anbindung von Jugendlichen zufrieden sein. Aber wir müssen eben auch feststellen, dass wir viele Kinder und Jugendliche nicht erreichen. Auch die anderen Angebote von Sportvereinen tun das nicht und wir haben eine Gesamtverantwortung, nicht nur für unsere Jugendlichen, die Ziel von Aggressionen werden könnten, sondern auch für alle anderen.
Und ich denke, wir haben immer an der Seite der Schwachen und Benachteiligten gestanden. Gewalt ist oftmals eine Konsequenz von vorheriger Benachteiligung. Und deshalb müssen wir für mein Dafürhalten Anwalt für dieses Thema sein. Wir wollen eine friedliche Welt, dann darf das nicht nur auf einer katholischen Insel stattfinden, sondern dann muss das ein Anliegen für ganz Bad Godesberg sein.
domradio.de: Sie haben angeboten, mit Ihrer "Bürgerstiftung Rheinviertel" einen arabischen Streetworker zu finanzieren. Was hat Sie zu diesem Angebot bewogen?
Picken: Ich muss als katholischer Pfarrer einfach einräumen, dass ich viele Jugendliche hier im Stadtteil nicht verstehe. Nicht weil ich es nicht will, sondern weil sie einer anderen Kultur, Religion und Sprache entstammen. Also braucht es Kompetenz, die wir selber nicht liefern können. Wir können vielleicht Gesellschaft und Bürger mobilisieren, finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen. Aber die Kompetenz diese Arbeit zu machen, haben wir nicht. Wichtig ist: Es ist nicht nur bürgerschaftliches Engagement gefragt, hier ist die Stadt und die Politik jetzt gefordert, gut zu überlegen, was sie tun kann.
Denn Jugendarbeit, und das erleben wir im ganzen Bistum und Land, ist immer einer der ersten Bereiche, die in der Rotstiftpolitik zurückgestrichen wird. Das muss aufhören. Das ist eine Investition in die Zukunft. Ich bin sehr dankbar, dass der Bonner Oberbürgermeister Jugendarbeit nun zur Chefsache machen will. Doch eines ist klar: Wir als Katholische Kirche werden alles daran setzen, dass dieses Thema nicht mehr unter den Teppich gekehrt wird, sondern wir werden Anwalt dieser Frage sein und uns immer wieder zu Wort melden, bis wir den Eindruck haben, dass dieses Problem befriedigend für Bad Godesberg gelöst ist.
domradio.de: Sie haben dem Oberbürgermeister der Stadt jetzt eine Idee präsentiert, wie man im Rahmen des Schulunterrichtes Präventionsmaßnahmen ergreifen könnte. Was genau sollte da gelehrt werden?
Picken: Es sollte kein Unterrichtsinhalt im klassischen Sinne sein, sondern es muss ein Angebot parallel zum Schulunterricht sein. Aber es sollte dennoch verpflichtend sein für jeden Jugendlichen. So garantieren wir, dass alle angesprochen werden. Wir erleben im Erzbistum sehr positive Entwicklungen, wenn wir Jugendliche im Rahmen der Präventionsarbeit im Bereich sexualisierte Gewalt fortbilden.
Da entwickelt sich eine große Sensibilität für Fragen wie: Was ist Gewalt? Wie entwickelt sich Gewalt? So schafft man Aufmerksamkeit nicht nur für sich selber sondern auch für das Umfeld. Und genau das muss erreicht werden. Und wenn es uns möglich wäre, alle Schüler eines Jahrgangs nach und nach mit dem Thema in Berührung zu bringen, rechtzeitig vorzubeugen und nicht erst anzusetzen, wenn die Leute schon in einer Gewalteskalationssituation sind.
Dann haben wir die Chance, Jugendliche auch positiv zu beeinflussen; ihnen zu vermitteln: Was ist Gewissen? Was ist Sozialverhalten? Wie geht man mit Frustration, Aggression und Angst und Depressionen um? Wie nimmt man sie wahr? An wen wendet man sich? Wenn man solche Dinge in den Schulalltag integriert, dann können wir dafür Sorge tragen, dass manche Gewalteskalation vorher schon abgebremst und reduziert werden kann.
Das Gespräch führte Daniel Hauser.