Familienministerin Schröder will am Runden Tisch Missbrauch über Entschädigung reden

"Wir müssen klären, was die Täter selbst beitragen können"

Zum Auftakt des Runden Tisches zum Kindesmissbrauch hat Bundesfamilienministerin Kristina Schröder (CDU) angemahnt, die Täter nicht aus der Verantwortung zu entlassen. Es dürfe nicht nur auf die Institutionen geschaut werden, sagte sie in einem epd-Interview in Berlin.

 (DR)

epd: Am Runden Tisch Missbrauch, der am Freitag erstmals zusammenkommt, werden rund 60 Vertreter von Bund, Ländern, Kommunen, Verbänden, Kirchen und anderen Institutionen sitzen. Wie sind die Opfer vertreten?
Kristina Schröder: Die Seite der Opfer spielte von Anfang an eine große Rolle. Wir haben deshalb zentrale Kinderschutzverbände und bundesweite Zusammenschlüsse von Beratungsstellen für Opfer sexueller Gewalt eingeladen: Dazu gehört etwa die Organisation Wildwasser, die durch ihren Dachverband vertreten ist , sowie eine Beratungsstelle, die sich auf Männer und Jungen als Opfer von Missbrauch spezialisiert hat. Außerdem sitzt der Weiße Ring, der sich für Verbrechens-Opfer einsetzt, mit am Tisch und Verbände, die in der Beratung und Intervention tätig sind. Die Anliegen der Opfer sind also gut vertreten.

epd: Die Anlauf- und Beratungsstellen für Opfer sagen übereinstimmend, sie seien unterfinanziert. Kann und soll auch der Bund Mittel bereitstellen? Etwa so, wie er den Ausbau der Kinderbetreuung mitfinanziert?
Schröder: Ich nehme die Aussagen der Organisationen sehr ernst, darüber müssen wir am Runden Tisch reden. Aber für Ankündigungen ist es zu früh. Der Runde Tisch muss zunächst eine Bestandsaufnahme machen. Was haben wir zu bieten und wo gibt es Lücken? In sehr vielen Kommunen gibt es schon ein gutes Hilfsangebot.

epd: Wo sehen Sie Lücken?
Schröder: Wir müssen uns auch um die Therapie pädophil veranlagter Männer kümmern. Da gibt es bereits sehr gute Projekte, zum Beispiel «Kein Täter werden» in Berlin. Jetzt müssen wir prüfen, wie wir es erreichen können, mehr solcher qualifizierten Anlaufstellen in Deutschland zu schaffen, an die sich pädophil veranlagte Männer, bevor sie zum Täter werden, wenden können. Das Thema wurde bisher zu wenig beachtet.

epd: Ein anderes zentrales Thema ist die Entschädigung der Opfer. Wie stehen Sie dazu?

Schröder: Wir haben die ehemalige Bundesfamilienministerin Christine Bergmann als Beauftragte eingesetzt, die mit großem Elan ihre Arbeit aufgenommen hat. Sie sammelt Berichte der Opfer und wird Vorschläge machen zu materiellen und immateriellen Entschädigungsleistungen durch die Verantwortlichen. Der Staat kommt erst dann ins Spiel, wenn staatliche Behörden, beispielsweise die Schulaufsicht, versagt haben. Es geht darum, dass die, die verantwortlich sind, auch ihrer Verantwortung gerecht werden.

epd: Also die Institutionen, die Kirchen?
Schröder: Die Institutionen sind das eine. Aber ich gebe auch Kardinal Karl Lehmann Recht, der kritisiert, dass wir zur Zeit nur über die Institutionen reden und eigentlich nicht über die einzelnen Täter. Wir denken zu schnell an das System, aber nicht an die individuelle Verantwortung. Natürlich darf die Entschädigung eines Opfers nicht daran scheitern, dass der Täter nicht zahlungsfähig ist. Aber ich halte es für ganz entscheidend in Hinblick auf die individuelle Gerechtigkeit, dass wir klären, was die Täter selbst beitragen können.

epd: Juristisch sind Einzeltäter 20 bis 30 Jahre nach dem Missbrauch aber nicht mehr zu fassen, weil die Tat verjährt ist. Halten Sie es für realistisch, dass ein Täter sein Opfer freiwillig entschädigt?
Schröder: Ich trenne hier sehr scharf zwischen der juristischen Frage, ob ein Anspruch möglicherweise verjährt ist, und der moralischen Frage, ob man sich tatsächlich auf die Verjährung beruft. Das sind zwei völlig unterschiedliche Ebenen. Ich halte es deshalb nicht für unrealistisch, das sich entweder Einzeltäter oder auch Beschäftigungsinstitutionen wie beispielsweise die Kirchen mit Blick auf die moralische Dimension zu Entschädigungsleistungen bereit finden.

epd: Die Kirchen sagen, für Zahlungen brauchen sie eine Rechtsgrundlage. Da es diese bisher nicht gibt, sind Fondslösungen einfacher zu handhaben. Das hat ja auch die Moderatorin des Runden Tisches Heimerziehung, Antje Vollmer, vorgeschlagen. Halten Sie es für sinnvoll, am Runden Tisch Missbrauch auf eine Fondslösung zuzusteuern?

Schröder: Antje Vollmer hat als Moderatorin des Runden Tisch Heimkinder einen Fonds für Opfer mit Traumata angeregt. Wir werden die Frage sicher am Runden Tisch Kindesmissbrauch diskutieren, aber das Ergebnis ist offen.

epd: Wann wird denn der Runde Tisch diese Frage beantworten?
Schröder: Bis Ende des Jahres soll auf jeden Fall ein Zwischenbericht vorliegen. Dann wird sich zeigen, was noch zu tun ist.

epd: Die Familie ist der Ort, wo sexueller Missbrauch mit Abstand am häufigsten vorkommt. Ist es möglich, diesen Bereich zu 'knacken'?
Schröder: Wir werden Kindesmissbrauch niemals ganz verhindern können. Aber es gibt Abläufe, in die wir eingreifen können. Täter testen fast immer erst aus, wie weit sie gehen können. Wir wissen, dass Kinder, die Annäherungen zurückweisen oder den Kontakt meiden, seltener zu Opfern werden. Hier kann man einhaken. Wir haben die Kultusministerkonferenz mit am Tisch: Missbrauch muss in den Schulen ein Thema sein. Kinder müssen wissen, dass in jedem Fall der Täter die Schuld trägt, dass Missbrauch immer gegen den Willen des Kindes geschieht und an wen sie sich wenden können.

epd: Sind Sie dafür, die Verjährungsfristen für zivilrechtliche Ansprüche der Opfer zu verlängern, damit länger ein Recht auf Entschädigung erhalten bleibt?
Schröder: Da besteht bei vielen Abgeordneten die Überzeugung, dass diese Fristen zu kurz sind.

epd: Was wünschen Sie sich als Ergebnis des Runden Tisches?
Schröder: Was wir brauchen, sind klare Regeln, vielleicht in Form von Selbstverpflichtungen, was die Institutionen tun zur Prävention und Intervention. Wir müssen uns auch darauf verständigen, wie das Verhältnis von Nähe und Distanz aussehen soll. Und: Es wäre fatal, wenn nun ein Generalverdacht gegenüber männlichen Erziehern entstünde.

epd: Dann haben Sie zum Schluss einen neuen Aktionsplan, alle lehnen sich zufrieden zurück, und es passiert nichts.
Schröder: Nein, dann muss er umgesetzt werden. In dem Aktionsplan sollen Aufträge für die verschiedenen Institutionen und staatlichen Ebenen stehen. Nach einer angemessenen Frist müssen die Aufgaben umgesetzt werden. Ich will Ergebnisse sehen.

epd: Ist in der Vergangenheit zu wenig passiert? Es gibt bereits einen Aktionsplan, eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe und ausgearbeitete Konzepte.
Schröder: Ich würde nicht sagen, dass generell zu wenig geschehen ist. Sexueller Missbrauch findet zwar nach wie vor statt. Wir beschäftigen uns derzeit aber mit Fällen, die zum größten Teil Jahrzehnte zurückliegen. Insofern kann man nicht den Institutionen in ihrer heutigen Struktur die Verantwortung für die damaligen Fälle geben. Es wird bei dem Thema eine gute Aufklärungsarbeit geleistet - doch wir müssen insgesamt noch besser werden.

Interview: Bettina Markmeyer, Thomas Schiller und Jutta Wagemann