Prälat Robert Kümpel war von 1984 bis 1996 Personalchef und acht Jahre Regens im Priesterseminar. In Köln war er zudem ab 2008 Ansprechpartner für Betroffene von sexuellem Missbrauch. Im Interview schaut er zurück.
DOMRADIO.DE: Im Gespräch mit Ihnen wollen wir versuchen, besser zu verstehen, wie das Thema sexueller Missbrauch in Ihrer aktiven Zeit behandelt wurde. Sie waren lange Personalchef im Erzbistum Köln, war das Problem des sexuellen Missbrauchs damals ein Thema?
Prälat Robert Kümpel: Das war damals nur insofern ein Thema, als es einzelne Fälle gab, aber es stand nicht im Vordergrund, wie es heute der Fall ist.
DOMRADIO.DE: Fast zwölf Jahre lang, von 1984 bis 1996, waren Sie als Hauptabteilungsleiter verantwortlich für das kirchliche Personal. Können Sie sich erinnern, wie viele Fälle sexuellen Missbrauchs durch Priester es in Ihrer Amtszeit gab?
Kümpel: Im Erzbistum Köln waren es laut MHG-Studie in der Zeit von 1946 bis 2014 insgesamt 87 Beschuldigte. Ich selbst habe während meiner Zeit als Personalchef keine zehn Fälle erlebt. Fakt ist, dass viele Betroffene erst 20, 30, manchmal 40 Jahre nach dem Geschehen überhaupt offen über diese Verbrechen reden konnten. Oft waren die Täter da schon verstorben, und wir erhielten erst im Nachhinein Kenntnis von den Verbrechen.
DOMRADIO.DE: Sie sagen, es waren nur wenige Einzelfälle. Gehen Sie davon aus, dass wirklich alles über Ihren Schreibtisch gelaufen ist? Oder mag es auch Fälle gegeben haben, die vielleicht direkt auf Ebene des Kardinals oder Generalvikars behandelt wurden?
Kümpel: Ich bin ziemlich sicher, dass alle Fälle, die ankamen, mir bekannt geworden sind. Die Kardinäle Höffner und Meisner haben ja praktisch nichts eigenständig gemacht. Wenn ein Fall auftrat, habe ich mit dem Erzbischof darüber gesprochen. Der Fall kam dann in die Personalkonferenz. Dort wurde überlegt: Was kann man tun? Dann wurde eine Entscheidung getroffen.
DOMRADIO.DE: Das heißt, alle Mitglieder der Personalkonferenz waren damals über die Einzelfälle im Bilde und haben gemeinsam das weitere Vorgehen beraten?
Kümpel: Es gab kaum Fälle, die an diesem Gremium vorbeigegangen sind. Insofern gab es immer eine gemeinsame Besprechung, zum Beispiel über die Beurlaubung oder Suspendierung eines Täters. Das Gremium hat den Bischof beraten – die letzte Entscheidung hat dann natürlich immer der Erzbischof getroffen.
DOMRADIO.DE: Der Alterzbischof von Hamburg, Werner Thissen, hat in einem Interview seine Rolle als kirchlicher Personalverantwortlicher in Münster im Nachhinein sehr kritisch reflektiert. Teilen Sie seine Einschätzung?
Kümpel: Für unser Bistum weniger. Ich kann mich nicht entsinnen, dass wir im Erzbistum Köln mal gesagt haben, da könne man nichts machen, denn der Priester, der jemanden missbraucht habe, sei schon gestraft genug. Aber ich denke, dass wir in vielen Punkten anders hätten handeln können.
DOMRADIO.DE: Was meinen Sie konkret?
Kümpel: In der Regel war es so: Wenn ein Fall ruchbar wurde, dann wurde der Täter sofort aus dem Dienst herausgenommen. Dann wurde erst mal überlegt: Was kann man tun? Was ist überhaupt alles passiert? Wir haben uns bemüht, die Fakten zu analysieren, und dann haben wir – wenn uns das klar war – überlegt, ob man den Priester überhaupt noch weiter im Dienst einsetzen konnte. Wir haben den Täter – soweit ich mich entsinne – ausnahmslos zu einem namhaften Psychotherapeuten geschickt. Der hat ihn dann begutachtet, ob und, wenn ja, wie und wo ein zukünftiger Einsatz möglich sein könnte. Das wurde dann sehr genau überlegt. Ich würde heute im Rückblick sagen – und das werfe ich mir vor –, was nicht gut gelaufen ist: Ich hätte mich stärker dafür einsetzen müssen, dass wir viel strikter und konsequenter gegen diese Täter vorgehen.
DOMRADIO.DE: Spielte die Opferperspektive damals eine so große Rolle wie heute?
Kümpel: Nein. Das muss man ganz deutlich sagen. Damals war uns die Tragweite dieser Verbrechen noch nicht so bewusst, wie das heute der Fall ist. Ich wurde von 2008 an Ansprechpartner für den kirchlichen sexuellen Missbrauch. Eigentlich habe ich da erst in Einzelgesprächen kennengelernt, was für katastrophale Verwerfungen und Leiden im Leben junger Menschen durch Missbrauchserfahrungen angerichtet wurden. Ich entsinne mich an den Fall eines Jugendlichen, der im Alter von 15, 16 Jahren missbraucht worden ist, ebenso wie sein Bruder. Der Bruder hat später Selbstmord begangen. Der Betroffene ist zu seinen Eltern gegangen, hat von diesem Missbrauch berichtet und wurde dann vom Vater so sehr verprügelt, dass er einen Arm gebrochen hatte. Die Leute sagten: Das kann gar nicht sein. Ein Priester tut so etwas nicht. Das ist heute natürlich alles völlig anders. Heute weiß man um diese Dinge und zu welchen schrecklich leidvollen Langzeitwirkungen der sexuelle Missbrauch bei Menschen führen kann.
DOMRADIO.DE: Der Vorwurf an die Kirche ist ja, dass sie immer nur den Schutz des eigenen Systems im Blick gehabt hat. Wird der Vorwurf zu Recht erhoben?
Kümpel: Das ist mir ein bisschen einseitig. Wir haben bei unseren Entscheidungen damals schon darauf geschaut, dass möglichst keine weiteren Schäden passierten. Aber ich gebe zu, das war nicht konsequent genug. Ich weiß, dass ich zweimal in der Personalkonferenz vorgeschlagen habe, solche Täter ohne langes Federlesen in den Ruhestand zu versetzen. Das brachte mir damals ein nachsichtiges Lächeln meiner Kollegen ein. Das wäre aber ein Signal gewesen, dass die Autoritäten der Kirche konsequent mit solchen Fällen umgehen – ein Signal an alle möglichen anderen eventuellen Täter. Solche Zeichen wären damals wichtig gewesen.
DOMRADIO.DE: Hat man Ihnen selbst vonseiten der damaligen Generalvikare, vonseiten der damaligen Erzbischöfe bei Missbrauchsfällen klare Vorgaben gemacht?
Kümpel: Es gab keine feste Ordnung wie heute. Wir haben versucht, die Fälle mit dem gesunden Menschenverstand zu behandeln. Aber natürlich war dies aus der heutigen Sicht fehlerhaft. Das fängt schon mit eigentlich ganz banalen Sachen an – wie beispielsweise unserer Personalaktenführung. Wir haben damals ein System gehabt, das eigentlich gar keins war. Es wurde einfach alles, was sich zu bestimmten Personen ereignete, in einen Ordner geheftet. Es wurde auch nicht er jede einzelne Entscheidung und ihre Begründung eine Aktennotiz geschrieben.
DOMRADIO.DE: Gab es, wie immer gemunkelt wird, einen geheimen Giftschrank für spezielle Personalakten?
Kümpel: Ja, es gab einen geheimen Schrank, wo solche Fälle untergebracht wurden. Damit sollte gewährleistet werden, dass sich der Zugang zu den Akten auf wenige Personen beschränkte. Diese Akten sollten dann nach der Vorschrift des Codex alle zehn Jahre vernichtet werden. Das wurde aber nicht immer konsequent durchgeführt. Heute halte ich es für wichtig, dass solche Akten überhaupt nicht mehr vernichtet werden, damit man später die getroffenen Entscheidungen noch nachvollziehen kann.
DOMRADIO.DE: Es gibt eine Differenz zwischen den ermittelten Fällen der MHG-Studie und den Fällen, in denen im Erzbistum Köln das Kirchenrecht bemüht wurde. Wie erklären Sie sich diese Differenz?
Kümpel: Soviel ich weiß, ist lange Jahre überhaupt kein kirchenrechtlicher Strafprozess gegen Missbrauchstäter durchgeführt worden. Die Verantwortlichen haben sich bemüht, die Fälle auf der Verwaltungsebene zu lösen. Es gab durchaus die entsprechenden Mittel dazu. Der Bischof konnte entscheiden, konnte Priester suspendieren und konnte Täter in den Ruhestand versetzen. Das war alles möglich, aber kirchenrechtliche Prozesse sind in dieser Weise kaum je geführt worden, soweit ich mich erinnern kann.
DOMRADIO.DE: Ab 2008 waren Sie Ansprechpartner für von sexuellem Missbrauch Betroffene im Erzbistum Köln. Ab wann hat die Kirche den Blickwinkel auf den Missbrauch wirklich verändert?
Kümpel: Ich erinnere mich an einen Fall aus dem Jahr 2008. Damals sagte mir ein Zeitungsreporter, er wundere sich, wie zupackend unser Erzbistum mit diesem Missbrauchsfall umgegangen sei. Damals ist der Generalvikar hingegangen und hat in der Gemeinde, in der der Täter viele Jahre als Pfarrer gewirkt hatte, eine Verkündigung verlesen, persönlich. Mögliche Opfer wurden gebeten, sich zu melden, damit wir Hilfestellung leisten konnten und auch erfuhren, was eigentlich wirklich alles passiert ist. Das war der erste "Schuss", mit dem das Erzbistum damals sehr deutlich gemacht hat: Es gibt keine Vertuschung. Jeder Fall wurde von da an konsequent verfolgt.
DOMRADIO.DE: Sie haben eine sehr lange Erfahrung in ganz vielen unterschiedlichen Bereichen der Kirche. Sie waren unter anderem Regens des Priesterseminars. Was muss Ihrer Ansicht nach geändert werden in der Kirche?
Kümpel: Ich denke, es hat sich schon vieles geändert, Gott sei Dank! Wenn ich die neue Ordnung lese, die am 1. Januar veröffentlicht worden ist, wo wirklich klare Verhaltensweisen für alle Beteiligten – Ansprechpartner, Betroffene, Täter, Einrichtung eines Betroffenenbeirats und dergleichen – vorgesehen sind, dann sieht man, wie aufmerksam die Kirchenvertreter geworden sind, gerade auch auf das Leid der Betroffenen hin. Das war ein schmerzlicher Prozess für alle Beteiligten. Heute gibt es für Täter kein Pardon. Schuldig gewordene Priester werden konsequent zur Verantwortung gezogen und nicht mehr eingesetzt. Das ist ein wichtiges Signal in die Gesellschaft hinein und in die Kirche. Nur so können wir das Vertrauen auch der Gläubigen zurückgewinnen.
DOMRADIO.DE: Wie beurteilen Sie die Diskussion in Sachen Entschädigung?
Kümpel: Ich halte es für absolut richtig, dass man die Täter heranzieht, die Opfer zu entschädigen. Nicht nur, wenn es darum geht, Therapien zu finanzieren oder dergleichen, sondern auch hinsichtlich der Zahlung von Schmerzensgeld. Das Problem ist, dass viele Täter inzwischen schon verstorben sind. Ich denke auch, dass die finanziellen Beträge höher liegen sollten als die bisherigen Zahlungen zur Anerkennung des zugefügten Leids.
DOMRADIO.DE: Mit welchen Gefühlen sehen Sie denn auf die Ergebnisse der unabhängigen Untersuchung, die das Erzbistum Köln demnächst veröffentlichen will?
Kümpel: Einerseits bin ich neugierig, was da herausgefunden wurde. Denn ich denke schon, dass die unabhängigen Anwälte sorgfältig arbeiten. Ob sich die Mitarbeiter einer Anwaltskanzlei immer in die kirchliche Situation einfühlen können, wie sie damals war, weiß ich nicht. Aber nach meiner Ansicht ist es sehr wichtig, darauf zu achten, dass die zu erwartenden Veränderungsvorschläge im Untersuchungsbericht auch ernst genommen werden.
DOMRADIO.DE: Sie waren viele Jahre als Regens für die Ausbildung junger Priester verantwortlich. Hat sich da etwas verändert?
Kümpel: Als ich Regens war, haben wir nach den ersten Nachrichten über sexuellen Missbrauch durch Geistliche einen eigenen mehrtägigen Ausbildungsblock zum Thema Missbrauch durchgeführt. Damals haben wir das in Zusammenarbeit mit einer Kinderärztin und Psychotherapeutin gemacht. Die hat das Thema sehr entschieden und engagiert vorgetragen und sich bemüht, die jungen zukünftigen Priester gut vorzubereiten auf die Situation in den Gemeinden und unseren kirchlichen Verbänden. Heute haben wir regelmäßige Präventionskurse. Ich halte es nach wie vor für sehr hilfreich und sinnvoll, solche Veranstaltungen regelmäßig anzubieten.
DOMRADIO.DE: Das priesterliche Leben ist ein großes Feld, was jetzt auch im Rahmen des Synodalen Wegs diskutiert werden soll. Welche Erfahrungen können Sie da einbringen?
Kümpel: Es ist wichtig, dass Priester sehr auf ihre körperliche und seelische Gesundheit achten. Ich habe den Seminaristen immer ans Herz gelegt, dafür zu sorgen, dass sie gute Beziehungen pflegen zu anderen Menschen, Freundschaften wahrnehmen und sich nicht nur in die Arbeit stürzen, sodass sie auch menschlich-emotional eine Beheimatung haben. Die Frage, ob der Zölibat abgeschafft werden soll oder nicht, ist für mich eine ganz andere Frage. Ich persönlich kann mir eine totale Abschaffung nicht vorstellen. Aber wir sollten bei der Gesamtsituation der Kirche schon darüber nachdenken, welche anderen Lösungen zum Beispiel für Länder wie etwa im Amazonasgebiet möglich und nötig sind.
DOMRADIO.DE: Ein Punkt, der oft in der Diskussion ist, ist die mögliche Einsamkeit der Priester. Wie erleben Sie das? Sind Sie einsam?
Kümpel: Ich fühle mich nicht so. Ich habe mich aber auch immer bemüht, Beziehungen zu pflegen. Ich habe zehn Jahre lang in einer Wohngemeinschaft mit anderen gelebt und habe auch jetzt eine Haushälterin, die mich begleitet. Ich denke, das ist wichtig. Einsamkeit hängt natürlich auch davon ab, wie weit ich selbst emotional auf andere Menschen zugehe. Der Zölibat ist ja nicht nur dazu da, etwas nicht zu tun, was man eigentlich gerne täte, sondern ist dafür da, die eigene emotionale Kraft auch anderen Menschen anzubieten, ob Kindern und Jugendlichen oder Kranken, Alten, Menschen in Not oder welchen Gruppen auch immer. Da, wo ich das tue, erlebe ich immer wieder, dass diese Menschen sehr dankbar sind und sich darüber freuen, dass ein Priester Zeit und Aufmerksamkeit für sie hat. Von diesen Menschen habe ich meinerseits immer viel Zuwendung zurückbekommen.
DOMRADIO.DE: Wenn Sie jetzt zurückblicken auf ein langes, erfülltes Leben im priesterlichen Dienst, was geben Sie denen mit auf den Weg, die heute in der Kirche Verantwortung tragen?
Kümpel: Es wäre wichtig, nach den Zeichen der Zeit zu fragen, diese ernst zu nehmen und nach dem Willen Gottes für unsere heutige Situation zu fragen – und nicht jede Veränderung in der Kirche von vornherein auszuschließen.
Das Interview führten der Chefredakteur der Kirchenzeitung, Robert Boecker, und der Chefredakteur von DOMRADIO.DE, Ingo Brüggenjürgen.
Info: Der Personalkonferenz gehörten damals, neben dem Erzbischof, dem Generalvikar, den Weihbischöfen und dem Offizial, der Regens des Priesterseminars, der Leiter der Hauptabteilung Seelsorge Personal sowie der Leiter der Diözesanstelle Pastorale Begleitung an. Seit dem Amtsantritt von Kardinal Woelki wurde das Gremium durch die Leiter der Hauptabteilungen Schule, Seelsorge und Seelsorgebereiche sowie die Stellvertreterin des Hauptabteilungsleiters Seelsorge ergänzt.