Deniz Yücel sitzt seit einem Jahr in der Türkei im Gefängnis: Der "Welt"-Korrespondent stellte sich am 14. Februar 2017 freiwillig der Istanbuler Polizei, um sich zu seinen Berichten über geleakte E-Mails des türkischen Energieministers Berat Albayrak zu erklären. Knapp zwei Wochen später, am 27. Februar, kam Yücel aus dem Polizeigewahrsam in Untersuchungshaft. Eine Anklageschrift liegt bis heute nicht vor.
Die konkreten Vorwürfe gegen den Journalisten bleiben im Vagen: Bis heute liegt keine Anklageschrift vor, die Behörden halten die Ermittlungsakten wegen Terrorverdachts unter Verschluss. Terrorverdächtige können nach türkischem Recht bis zu fünf Jahre lang in Untersuchungshaft bleiben.
Kein Einzelfall
Yücel wehrt sich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen seine Inhaftierung – eine Entscheidung steht noch aus. Bis zum 22. Februar dürfen die türkische Regierung sowie Yücel sich schriftlich zu einer Stellungnahme der Bundesregierung äußern, die einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention befürchtet. Laut Auswärtigem Amt wurde Yücel Mitte Januar zum achten Mal von Vertretern der deutschen Botschaft im Gefängnis besucht. Nach Ministeriumsangaben sind derzeit sechs Deutsche aus politischen Gründen in der Türkei in Haft.
Yücel war der erste in einer Reihe von prominenten deutschen Häftlingen in der Türkei: Im April 2017 wurde die Journalistin Mesale Tolu festgenommen, im Juli der Berliner Menschenrechtler Peter Steudtner. Beide sind mittlerweile wieder auf freiem Fuß. Steudtner ist nach Deutschland zurückgekehrt, Tolu darf das Land derzeit nicht verlassen. Die Prozesse gegen beide gehen weiter. Anders als Steudtner und Tolu besitzt Yücel neben der deutschen auch die türkische Staatsbürgerschaft.
Was ihm vorgeworfen wird
Die Bundesregierung hat ihre Forderung nach Yücels Freilassung immer wieder bekräftigt. Für Empörung sorgten auch die Haftbedingungen: Yücel saß über 290 Tage in strenger Einzelhaft im Gefängnis von Silivri nahe Istanbul. Seitdem hat er Zugang zu einem Gefängnishof, den er sich mit einem weiteren Häftling teilt.
Yücel selbst wehrt sich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und dem türkischen Verfassungsgericht gegen seine Inhaftierung. In einer Stellungnahme vor dem EGMR warf die Türkei dem Korrespondenten Ende November vor, sowohl die kurdische Arbeiterpartei PKK als auch die Gülen-Bewegung unterstützt zu haben – eine Anschuldigung, die die Behörden an viele Journalisten richten. Die beiden Organisationen stehen auf entgegengesetzten Seiten des politischen Spektrums und gelten in der Türkei als Terrorgruppen.
Keiner weiß, wann es weitergeht
Zudem habe Yücel den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan mit diffamierenden Äußerungen herabgesetzt. Vorwürfe, das Verfahren gegen Yücel werde verschleppt, wies das türkische Justizministerium zurück. Vor dem türkischen Verfassungsgericht äußerte sich das Ministerium erst kürzlich zu Yücels Haftbeschwerde – auch dort bekräftigte es den Vorwurf der Terrorpropaganda.
Neuere Entwicklungen haben Hoffnungen auf eine baldige Entscheidung im Fall Yücel geweckt. Dazu zählen die Freilassung Tolus und Steudtners und diplomatische Annäherungen zwischen Deutschland und der Türkei, aber auch Äußerungen des türkischen Außenministers Mevlüt Cavusoglu, sein Land werde ein EGMR-Urteil zur Freilassung des "Welt"-Korrespondenten umsetzen. Das Straßburger Gericht hat angekündigt, noch vor der Sommerpause eine Entscheidung fällen zu wollen.
Aktionen geplant
Der #FreeDeniz-Freundeskreis veranstaltet am Mittwoch in Berlin einen "Autokorso der Herzen", weil am 14. Februar Valentinstag ist. Yücels Heimatstadt Flörsheim am Main lädt für den späten Nachmittag des Jahrestages zu einer Mahnwache.
Mit einer Buchveröffentlichung zum ersten Jahrestag seiner Inhaftierung will Deniz Yücel der türkischen Regierung die Stirn bieten. Es wird am Mittwoch in Berlin im Anschluss an den Autokorso vom #FreeDeniz-Freundeskreis vorgestellt. Als Gäste sind unter anderem der Sänger Herbert Grönemeyer, die Schauspielerin Hanna Schygulla und die Journalistin und ARD-Moderatorin Anne Will angekündigt.
Der heute 44-jährige Yücel berichtete seit 2015 für die "Welt" aus der Türkei. Zuvor war er Redakteur bei der "tageszeitung". Seine Inhaftierung sorgte im In- und Ausland für Empörung. Unter dem Motto "#FreeDeniz" setzen sich zahlreiche Unterstützer für den Korrespondenten ein. Bilder von Yücel - lässig mit Kippe, Schnurrbart, Sonnenbrille – sind zu Ikonen für die Pressefreiheit geworden.
Menschenrechtler fordern Freilassung
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International fordert die Freilassung von inhaftierten Journalisten in der Türkei. "Die freie Presse sitzt in der Türkei in Haft. Regierungen aller Länder sind aufgerufen, die umgehende Freilassung Deniz Yücels und der anderen Journalisten einzufordern und die Türkei an die Einhaltung der Pressefreiheit zu erinnern", erklärte am Dienstag der Generalsekretär von Amnesty in Deutschland, Markus N. Beeko, in Berlin. Anlass ist der erste Jahrestag der Inhaftierung des deutsch- türkischen Journalisten Yücel an diesem Mittwoch.
Yücel sei einer von über 100 anderen in der Türkei in Gefängnissen sitzenden Journalisten, "deren Berichte und Kommentare der türkischen Regierung offensichtlich ein Dorn im Auge» seien. "Aber: Journalismus ist kein Verbrechen. Die Meinungsfreiheit ist ein Menschenrecht, das jede Regierung schützen muss, es darf nicht eingeschränkt werden", betonte Beeko. Im Fall von Yücel sei es so, dass er bisher ohne eine Anklage inhaftiert sei. "Diese andauernde Untersuchungshaft ohne Gerichtsverfahren kommt einer Strafe ohne Verfahren gleich und ist menschenrechtswidrig."
Die Türkei verändert sich
Auch der Deutsche Anwaltverein (DAV) forderte die Bundesregierung am Dienstag auf, sich stärker für rechtsstaatliche Verfahren in der Türkei einzusetzen. "Seit dem Erlass der Notstandgesetze existiert die unabhängige Justiz in der Türkei nur in Teilen. Zu beobachten ist ein System der Willkür", kritisierte Präsident Ulrich Schellenberg. Yücel sei zwar ein prominentes Beispiel, aber nicht der einzige, der ohne Anklage im Gefängnis sei. "Unabhängige Berufe wie Rechtsanwälte, Richter, Journalisten und Wissenschaftler werden mit fadenscheinigen Begründungen eines Terrorverdachts festgenommen und eingesperrt."
Viele der unter den Notstandsgesetzen Inhaftierten erführen oft erst nach Monaten von konkreten Tatvorwürfen, erklärte Schellenberg. Eine offizielle Anklageschrift fehle meist ebenfalls. Viele Rechtsanwälte könnten ihrer Arbeit nicht mehr nachgehen und würden festgenommen. "Vertrauliche Gespräche zwischen Mandanten und Anwalt sind nicht mehr möglich. Zusätzlich werden Verdachtsmomente gegen die Mandanten auch auf den anwaltlichen Verteidiger übertragen", hieß es.
Knapp 150 Journalisten inhaftiert
Seit dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 wurden nach Angaben von Amnesty knapp 150 Journalisten inhaftiert. Auch seien über 180 Medienhäuser geschlossen worden, schätzungsweise 2.500 Journalisten sowie Medienschaffende hätten ihre Arbeit verloren. Zuvor hatte die Organisation Reporter ohne Grenzen darauf hingewiesen, dass die Türkei zu den fünf Ländern weltweit gehöre, in denen die meisten Medienschaffenden wegen ihrer Arbeit inhaftiert seien. Das Land stehe auf der Rangliste der Pressefreiheit auf Platz 155 von 180 Staaten.
Regierungssprecher Steffen Seibert hatte gesagt, dass der Fall Yücel das Verhältnis zwischen der Türkei und Deutschland belaste. Der jüngste Besuch eines politischen Vertreters im Gefängnis datiere auf den 15. Januar.