Forscher fordert stärkere staatliche Versorgung von Armen

"Armut wird an Tafeln delegiert"

Der Gesellschaftswissenschaftler Stefan Selke kritisiert, dass die Versorgung armutsbetroffener Menschen an die Lebensmitteltafeln abgegeben werde. Ein Freiwilligensystem könne aber nicht Grundversorgung und Existenzsicherung leisten.

Autor/in:
Anna Schmid
Lebensmittelausgabe bei der Tafel e.V. / © Uli Deck (dpa)
Lebensmittelausgabe bei der Tafel e.V. / © Uli Deck ( dpa )

"Dass die Tafeln so am Anschlag sind, zeigt doch, wie dringend sich etwas ändern muss", so Gesellschaftswissenschaftler Stefan Selke gegenüber dem Evangelischen Pressedienst (epd).

Ein Freiwilligensystem könne nicht Grundversorgung und Existenzsicherung leisten. Selke fordert angesichts des starken Zulaufs zu den Lebensmitteltafeln in Deutschland eine Debatte über die Versorgung armutsbetroffener Menschen.

"In Almosensystemen sind Menschen fremdbestimmt"

"Die Tafeln werden sowieso weitermachen und ihr Bestes geben. Es muss auch honoriert werden, wie die Menschen sich jeweils vor Ort engagieren. Aber auf einer anderen Ebene ist es jetzt Zeit für eine grundsätzliche Debatte darüber, was uns das Soziale noch wert ist", sagte Selke, Professor für Gesellschaftlichen Wandel an der Hochschule Furtwangen.

Mitarbeiterin bei den Tafeln trägt einen Korb mit Lebensmitteln / © Felix Kästle (dpa)
Mitarbeiterin bei den Tafeln trägt einen Korb mit Lebensmitteln / © Felix Kästle ( dpa )

Die Frage dürfe nicht sein, wie der Staat die Tafeln unterstützen kann, sondern wie man armen Menschen genug zum Leben geben könne, ohne dass sie fremdbestimmt werden.

"Wir leben in einer Konsumgesellschaft und wer nicht am Konsum teilnehmen kann - egal auf welchem Niveau -, verliert ein Stück weit seine Bürgerrechte. Und damit bekommen wir früher oder später ein Demokratieproblem", befürchtet der Wissenschaftler. "In Almosensystemen sind die Menschen fremdbestimmt. So kann es keine soziale Gerechtigkeit geben."

Armut wird an Tafeln delegiert

Es gehe ihm nicht darum, die Tafeln zu kritisieren, sondern zu hinterfragen, welche Rolle sie in unserer Gesellschaft spielen. "Tafeln tragen seit 30 Jahren zur Stabilisierung einer 'kalten' Gesellschaft bei, weil die Armut mehr und mehr in dieses System delegiert wird", sagte Selke.

Der Wissenschaftler forderte, "die Ursachen für Armut in einem der reichsten Länder der Welt zu bekämpfen und den Fokus darauf zu legen, dass Menschen genug von dem haben, was sie brauchen. Man sollte Menschen retten, nicht Lebensmittel."

Tafeln in Deutschland

Die bundesweit agierenden Tafeln haben sich in den vergangenen 20 Jahren zu einer der größten sozialen Bewegungen in Deutschland entwickelt. Waren es 2002 noch gut 300, gibt es heute bundesweit etwa 900 Tafeln mit rund 2.100 Tafel-Läden und Ausgabestellen. Bei ihnen engagieren sich circa 60.000 ehrenamtliche Mitarbeiter. Alle zusammen versorgen sie mehr als 1,5 Millionen Menschen mit Lebensmitteln, die sie als Spenden im Handel und bei Herstellern gesammelt haben.

Helfer sortieren  Salat bei der Lebensmittelausgabe in der Kirche Sankt Karl Borromäus in Köln / © Harald Oppitz (KNA)
Helfer sortieren Salat bei der Lebensmittelausgabe in der Kirche Sankt Karl Borromäus in Köln / © Harald Oppitz ( KNA )
Quelle:
epd