Forscherin spricht über Widersprüche im Umgang mit Flucht

"Nicht vorrangig eine Werte-Diskussion"

An diesem Montag erscheint das Buch "Das Fluchtparadox" von Judith Kohlenberger. Im Interview spricht die Migrationsforscherin über verpasste Chancen der Corona-Zeit, Lehren aus der Geschichte und die Rolle der Kirchen.

Flüchtlinge aus der Ukraine / © Yanosh Nemesh (shutterstock)
Flüchtlinge aus der Ukraine / © Yanosh Nemesh ( shutterstock )

KNA: Im Frühjahr war die Hilfsbereitschaft gegenüber Geflüchteten aus der Ukraine enorm. Ist mit unserem Umgang mit Flucht also alles in Ordnung?

Judith Kohlenberger (Buchutorin und Migrationsforscherin): Ich würde das nicht generell verneinen - aber unser Umgang ist widersprüchlich. Das zeigt sich einerseits im Vergleich von unterschiedlichen Fluchtbewegungen: zum Beispiel in den Unterschieden 2015 und jetzt, 2022. Andererseits ist auch die Reaktion in den jeweiligen Momenten selten konsistent. So haben wir unterschiedliche Erwartungen an Geflüchtete, was sich auch bei den Menschen aus der Ukraine zeigt.

KNA: Inwiefern?

 © Victoria Jones (dpa)
© Victoria Jones ( dpa )

Kohlenberger: Wer aus der Ukraine flieht, ist besonders verletzlich: Frauen mit Kindern, gebrechliche Menschen oder Betroffene von chronischen Krankheiten. Das erhöht offenbar die Aufnahmebereitschaft, aber gleichzeitig werden Ukrainer fast wie klassische Arbeitsmigranten behandelt. Sie haben sofortigen Zugang zum Arbeitsmarkt, und die Erwartung ist, dass sie eben auch sofort arbeiten können.

Das ist aber häufig nicht der Fall, sei es durch Beeinträchtigungen, das hohe Alter oder weil die Kinderbetreuung geklärt werden muss. Diese widersprüchlichen Annahmen - möglichst schutzbedürftig, aber auch möglichst leistungsfähig zu sein - können die Betroffenen nicht erfüllen, was wiederum zu enttäuschten Erwartungen führt und die Aufnahmebereitschaft langfristig sinken lassen kann.

Judith Kohlenberger, Buchautorin und Migrationsforscherin

"Die widersprüchlichen Annahmen - möglichst schutzbedürftig, aber auch möglichst leistungsfähig zu sein - können die Betroffenen nicht erfüllen, was (...) die Aufnahmebereitschaft langfristig sinken lassen kann."

KNA: Diese ungleiche Bewertung von Geflüchteten ist nur ein Aspekt dessen, was Sie als "Fluchtparadox" beschreiben. Wie lässt sich dieses Paradox definieren?

Kohlenberger: Das Fluchtparadox besteht aus drei Momenten, wobei sich innerhalb dieser weitere Widersprüche auftun. Neben dem eben skizzierten Flüchtlingsparadox sehe ich das Asylparadox: die Tatsache, dass man in Europa kaum legal um Asyl ersuchen kann. Man muss letztlich ohne gültigen Aufenthaltstitel die Grenzen passieren, um dann auf dem Territorium einen Asylantrag stellen zu können. Kurzum: Man muss Recht brechen, um zu seinem Recht zu gelangen. Weil es kaum Resettlement-Programme oder andere Alternativen gibt.

Notunterkünfte für ukrainische Geflüchtete in den Kölner Messehallen / © Federico Gambarini (dpa)
Notunterkünfte für ukrainische Geflüchtete in den Kölner Messehallen / © Federico Gambarini ( dpa )

KNA: Und drittens?

Kohlenberger: Das Integrationsparadox, das Aladin El-Mafaalani festgehalten hat. Es beschreibt die Tatsache, dass mit steigender Integration das soziale Konfliktpotenzial nicht sinkt, sondern ansteigt.

Man erwartet zwar sozialen Aufstieg und Integration durch Leistung von Geflüchteten. Wenn dies aber erbracht wird, führt es zu Brüchen und Verteilungskämpfen mit der schon länger ansässigen Bevölkerung.

KNA: Vielfach wird kritisiert, dass Europa seine Werte an den Außengrenzen und auf dem Mittelmeer verrate. Wie sehen Sie das?

Kohlenberger: Mir ist wichtig, dass es sich nicht vorrangig um eine humanitäre oder eine Werte-Diskussion handelt. Es muss vielmehr eine rechtsbasierte Diskussion sein, denn es geht um verbriefte Rechte, beginnend mit dem Völkerrecht bis zu Grundlagendokumenten, die vor Jahrzehnten auf europäischem Boden erstritten wurden: die Genfer Flüchtlingskonvention oder die Europäische Menschenrechtscharta. Unsere Werte sind längst in Recht gegossen und müssen national umgesetzt werden. Gerade an den EU-Außengrenzen ist dies leider nicht der Fall.

Judith Kohlenberger, Buchautorin und Migrationsforscherin

"Unsere Werte sind längst in Recht gegossen und müssen national umgesetzt werden. Gerade an den EU-Außengrenzen ist dies leider nicht der Fall."

KNA: Hat die Corona-Krise die Ungleichheiten eher noch verschärft?

Kohlenberger: Corona hat ein Möglichkeitsfenster eröffnet: Die europäischen Aufnahmeländer hätten erkennen können, dass ein wesentlicher Anteil ihrer sogenannten Systemerhalter Menschen mit Migrations- und Fluchthintergrund sind. Das betrifft übrigens nicht nur den Niedriglohnsektor, sondern auch den mittleren und hochqualifizierten Bereich. Dieses Faktum hat man allerdings kaum gehört.

Unterdessen waren die Außengrenzen durch die Covid-Maßnahmen bisweilen komplett dicht, insbesondere für Fluchtmigration. In manchen Ländern war das Asylrecht de facto ausgesetzt, wurden Anträge nicht mehr bearbeitet. Dadurch hat sich ein gewisser Rückstau gebildet, der sich jetzt abbaut: In vielen europäischen Ländern steigen derzeit die Asylantragszahlen.

Asylantragssteller (dpa)
Asylantragssteller / ( dpa )

KNA: Mit welchen Folgen?

Kohlenberger: Die politische Rhetorik hebt nun darauf ab, dass sich "2015 nicht wiederholen" dürfe. Während der Pandemie hat sich aber auch die globale Sicherheitslage verschlechtert: Denken Sie etwa an den Rückzug der amerikanischen Truppen aus Afghanistan. Auch in vielen afrikanischen Ländern kommen Autokraten an die Macht, was wiederum Fluchtbewegungen auslöst.

KNA: Ein weiterer Aspekt, den Sie ansprechen, ist der Klimawandel, der bislang nicht als Fluchtgrund anerkannt ist. Was wäre hier angemessen?

Kohlenberger: Experten warnen davor, die Genfer Flüchtlingskonvention neu zu verhandeln, weil die Gefahr groß ist, hinter das Erreichte zurückzufallen. Klimawandel kann aber auch Flucht aus bereits anerkannten Gründen auslösen - etwa wegen klimabedingten Konflikten wie derzeit in Mali. Es gibt schon heute kriegerische Auseinandersetzungen um den immer rarer werdenden fruchtbaren Boden. Insofern ist der Übergang zwischen den Migrations- und Fluchtgründen fließend. Das bedeutet, dass Menschen, deren Vertreibung auf klimabedingte Veränderungen zurückzuführen ist, als anerkannte Flüchtlinge gelten können.

KNA: Wenn der aufrüttelnde Einzelfall nicht reicht, Strukturdebatten aber kompliziert sind - wo lässt sich ansetzen?

Kohlenberger: Ich plädiere für eine zugängliche Komplexität - was gar nicht so einfach ist. Komplexe Fragen brauchen komplexe Antworten. Natürlich ist es wichtig, sich  die Einzelschicksale vor Augen zu führen, denn hinter den Zahlen stehen schließlich Menschen. Es sollten aber nicht Einzelschicksale gegeneinander aufgewogen werden. Eine systemische Auseinandersetzung mit dem Thema ist mühsamer und schwieriger, aber notwendig.

KNA: Warum?

Kohlenberger: Im Lauf der Geschichte hat sich immer wieder gezeigt, dass der Abbau von Rechten marginalisierter Gruppen oft das Einfallstor ist, um auch die Rechte anderer Gruppen zu beschneiden. Allein schon aus diesem Grund sollte man wachsam bleiben.

Judith Kohlenberger, Buchautorin und Migrationsforscherin

"Die Kirchen haben viel zu bieten und können der Stachel im Fleisch sein, eine lästige, aber wichtige Stimme."

KNA: Die Kirchen tun viel für geflüchtete Menschen. Müssten sie lauter werden?

Symbolbild Kirchenasyl / © Harald Oppitz (KNA)
Symbolbild Kirchenasyl / © Harald Oppitz ( KNA )

Kohlenberger: Es gab und gibt ja das Kirchenasyl - eine gute Tradition, die eine Argumentationsgrundlage dafür sein kann, warum man sich für marginalisierte Gruppen einsetzt. Auch bildet die Erzählung von der Herbergssuche einen Kern des christlichen Glaubens. Insofern haben die Kirchen viel zu bieten und können der Stachel im Fleisch sein, eine lästige, aber wichtige Stimme.

Sie werden anders argumentieren als die Wissenschaft, stärker Bezug nehmen auf christliche Werte wie Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Das ist legitim, und im Kern kommen die unterschiedlichen Akteure - Wissenschaft, Zivilgesellschaft, Kirchen - zu einem ähnlichen Schluss: nämlich dem, dass sich der Globale Norden in einer Welt wie dieser nicht mehr länger jeglicher Verantwortung entziehen kann.

Das Interview führte Paula Konersmann.

Quelle:
KNA