Der Film hält sich nicht mit langen Vorreden auf. Fast unmittelbar setzt die Stimme von Alexandre ein. Ein 40-jähriger Banker aus Lyon, fünffacher Familienvater, in der französischen Großstadt etabliert und trotz Zweifeln ein überzeugter Katholik. Doch neben all dem ist sein Leben auch von einem furchtbaren Geheimnis geprägt, über das er erst seit kurzer Zeit sprechen kann: 30 Jahre zuvor wurde er als Pfadfinder und Messdiener von einem Priester missbraucht.
Da der Schuldige, Bernard Preynat, noch immer im Dienst der katholischen Kirche steht, wendet sich Alexandre an den Lyoner Kardinal Philippe Barbarin. Doch seine Anfragen bei ihm und sogar beim Papst bleiben ergebnislos, auch als er von weiteren Opfern berichten kann. So überwindet der Mann seine Skrupel und zeigt die Taten bei der Polizei an - womit er eine Welle von Enthüllungen über weitere Opfer lostritt.
Aufarbeitung der Opferperspektive sehr akribisch
Erstmals in seiner Laufbahn greift Regisseur Francois Ozon in "Grace a Dieu" (Gelobt sei Gott) ein brandaktuelles Thema auf: Seit 2014 wurden immer neue pädophile Straftaten in der Erzdiözese Lyon und ihre Vertuschung durch Kirchenobere publik. 2016 wurde Anklage gegen den Priester Preynat erhoben; die Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen.
Im Januar 2019 fand ein Gerichtsverfahren gegen Kardinal Barbarin und sechs andere Geistliche wegen der Nichtanzeige der Fälle statt; das Urteil wird für März erwartet. Seit Berlinale-Chef Dieter Kosslick die Premiere von Ozons Film im Wettbewerb bekanntgegeben hatte, war "Grace a Dieu" mit besonderer Spannung erwartet worden.
Aktuell ist der Film zweifellos - und in seiner Aufarbeitung der Opferperspektive sehr akribisch. Ozon verzichtet auf die Provokationen, mit denen er einst als Regisseur bekannt wurde, und ordnet sich ganz der Chronologie der Ereignisse unter.
Bilder bleiben austauschbar
Um zu zeigen, dass Missbrauch nicht bei allen Opfern die gleichen Auswirkungen hat, rückt Ozon stellvertretend drei Männer in den Fokus: Neben Alexandre (Melvil Poupaud), der weiter an seinem Glauben festhält, sind dies der von der Kirche abgewandt lebende Francois (Denis Menochet) und der äußerlich und psychisch besonders schlimm getroffene Emmanuel (Swann Arlaud).
Ihr Eintritt in die Handlung erfolgt in einer Kettenreaktion: Nach Alexandres Anzeige findet die Polizei in Francois ein bereitwillig aussagendes weiteres Opfer. Er wiederum aktiviert Emmanuel, der zum allerersten Mal über den Missbrauch sprechen kann. Anders als bei Alexandre und Francois, die beide glücklich liiert und gesellschaftlich etabliert sind, ist das Trauma bei ihm ständig präsent: Das Leben des Mannes aus der Arbeiterklasse ist von epileptischen Anfällen und Gewaltausbrüchen geprägt. Zugleich tut er sich schwer, eine gemeinsame Haltung mit den anderen Opfern zu finden.
Ozon verfolgt über weite Strecken einen dokumentarischen Ansatz: Alle drei Hauptfiguren, ihre Familien und Rechtsbeistände sind echt; nur ihre Nachnamen wurden geändert. Das müsste kein Problem sein, hätte sich Ozon nicht für einen völligen Verzicht auf inszenatorische Raffinesse entschieden. In Aufbau wie Ausführung ist "Grace a Dieu" der konventionellste Film, den er je gedreht hat. Eine funktionale Szene folgt auf die andere, die Bilder bleiben austauschbar, die Musik erinnert an seichte Betroffenheitsformate im Fernsehen.
"Ich tue das für die Kirche, nicht gegen sie"
So uneingeschränkt der Film die kirchliche Vertuschung der Missbrauchsfälle kritisiert, so wenig hat er mit einem kirchenfeindlichen Pamphlet zu tun: "Ich tue das für die Kirche, nicht gegen sie", sagt eines der Opfer im Film - und Ozon schließt sich dieser Haltung ausdrücklich an.
Letztlich ist "Grace a Dieu" zu geradlinig auf Forderungen hin inszeniert, die der Film erhebt: Aufhebung der juristischen Verjährungsfristen für Missbrauch und tatsächliche Maßnahmen gegen Pädophilie statt leerer Versprechen. Nichts davon ist falsch; der Schulterschluss mit den Missbrauchsopfern könnte nicht redlicher sein.
Doch mit dem überraschungsarmen Film kratzt Ozon nur an der Oberfläche des Problems, statt es wagemutig zu durchleuchten.
Von Marius Nobach