Die freie Gesellschaft und wechselseitiger Respekt sollten nach Worten des Münchner Kardinals Reinhard Marx nicht als selbstverständlich betrachtet werden. Viele Menschen hätten sich daran gewöhnt, "dass das eigentlich so ein Selbstläufer ist - und das ist es nicht", sagte er am Montag im Interview des Deutschlandfunk.
Die Gesellschaft müsse darauf achten, "dass wir nicht zurückfallen in autoritäre Vorstellungen von Schwarz und Weiß, homogene Gesellschaften", mahnte der frühere Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz.
Furcht vor Freiheit
Vor 20 Jahren hätte er noch nicht für möglich gehalten, dass "solche Populismen und Nationalismen" bis in die Kirche hinein ihren Platz finden könnten, so Marx weiter. Die Furcht vor der Freiheit sei häufig ein Ausgangspunkt, von dem aus Menschen sich zurückzögen "in eine klare Ideologie, in Verschwörungstheorien, in bestimmte Vorstellungen, die nicht mehr offen sind".
Coronavirus-Pandemie verstärkt Ungleichheiten
Er befürchte, dass Ungleichheiten und soziale Spannungen in Folge der Coronavirus-Pandemie wachsen könnten, fügte der Erzbischof hinzu. Viele Menschen, die es in puncto Bildung oder Vermögen schon vor der Krise schwerer gehabt hätten, seien nun in einer noch schlechteren Lage. Insofern hätten sich bestimmte Entwicklungen beschleunigt und verstärkt.
Freiheit und Veranwortung gehören zusammen
Zugleich habe Corona gezeigt, "wie zerbrechlich unser Leben ist, wie kostbar unser Leben ist, dass Freiheit und Verantwortung zusammengehören und dass Freiheit, eine freie Gesellschaft, nur existieren kann, wenn Menschen aufeinander achten", betonte Marx. Die Pandemie sei eine unerwartete Bedrohung gewesen. "Es gibt ja auch andere Bedrohungen der Freiheit, aber vielleicht haben wir gelernt, wie kostbar die Freiheit ist und wie sehr wir uns auch anstrengen müssen, eine Kultur der Freiheit zu bewahren." Im Mai ist ein Buch des Kardinals über Freiheit erschienen.
Religionsfreiheit
Freiheitliche Bewegungen müssten sich ihrerseits in das einbetten lassen, was die katholische Soziallehre als Gemeinwohl bezeichne, sagte Marx weiter. Dies gelte für Bewegungen gegen Sklaverei und Unterdrückung sowie jene, die sich für Wahlfreiheit einsetzten. Darunter verstehe er auch "Freiheit, in einer Gesellschaft zu leben, wo anerkannt wird, dass man sich auch religiös anders entscheiden kann."
Freiheit und Bindung
Marx selbst habe im Lauf seines Lebens erkannt, auf wie viele Arten der Mensch begrenzt sei, erklärte der Kardinal: "Mein Intellekt hat Grenzen, meine Zeit hat Grenzen." Hinzu kämen sprachliche und kulturelle Grenzen. Insofern gebe es absolute Freiheit und Autonomie nicht. Zudem würde völlige Freiheit "nicht nur in die Anarchie, sondern auch in die Aggression" führen. Marx verwies auf das biblische Buch Exodus, in dem Gott sein Volk befreie und beide danach einen Bund miteinander schlossen: "Die Freiheit findet ihre Vollendung erst, wenn ich Ja sage zu einer Bindung", erläuterte der Erzbischof. "Bindung ist kein Hindernis für die Freiheit, sondern Voraussetzung."
Lernende Kirche
Weiter sprach Kardinal Marx in dem Interview über Veränderungen in der Kirche. Die Kirche müsse die Zeichen der Zeit lesen. Es gelte, sich zu fragen, "was will Gott uns in dieser Stunde auch jetzt sagen", sagte der Erzbischof von München und Freising. Auch heute noch sei offenbar manchem die Vorstellung fremd, "dass die Kirche auch zu lernen hat". Lehren gelte es nicht nur aus biblischen Texten und kirchlichen Traditionen zu ziehen, sondern auch etwa von freiheitlichen Bewegungen und wissenschaftlichen Erkenntnissen.