An einem Januartag im Jahr 2010 machen sich in Berlin drei Männer, alle Mitte 40, auf den Weg in ihre frühere Schule, das katholische Canisius-Kolleg. Sie haben einen Termin mit dem Schulleiter und wollen mit ihm darüber sprechen, was ihnen vor Jahrzehnten in der Einrichtung angetan wurde, wie sie von zwei Patres bedrängt und missbraucht wurden.
Der Schulleiter glaubt den Schilderungen. Er schreibt einen Brief an ehemalige Schüler der 1970er und 80er Jahre und ruft sie auf, sich zu melden, wenn ihnen Ähnliches widerfahren ist. Der Aufruf wird öffentlich. In den folgenden Wochen wird der Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche, aber auch in vielen anderen Einrichtungen öffentlich. Und ein zuvor nie dagewesener Kampf gegen Missbrauch beginnt. Für ihr Engagement um die Aufarbeitung von Missbrauch an Kindern und Jugendlichen erhalten der damalige Schulleiter, Jesuitenpater Klaus Mertes, und Matthias Katsch, einer der drei Schüler, am 8. April das Bundesverdienstkreuz.
Katsch will in den Bundestag
Die Wege der beiden Männer kreuzen sich inzwischen seltener. Der inzwischen 66-jährige Mertes befindet nach der Leitung des Kollegs Sankt Blasien im Südschwarzwald in einer Sabbatzeit und will im Anschluss daran in die Seelsorge gehen, so kündigte er an.
Katsch, inzwischen 58, gründet noch im Jahr 2010 mit ebenfalls betroffenen Mitschülern den Eckigen Tisch, einen Zusammenschluss von Betroffenen an Jesuitenschulen, und ist inzwischen weltweit mit anderen Betroffenen vernetzt. In der kommenden Legislaturperiode will er für die SPD in den Bundestag einziehen. Wenn das gelingt, will er sich dort auch für die Bekämpfung von Missbrauch einsetzen.
"Rumpelkammer des Bewusstseins"
Als die Leidenszeit von Katsch als Teenager am Canisius-Kolleg beginnt, ist Mertes - Diplomatensohn und ehemaliger Schüler des ebenfalls von Jesuiten geführten Aloisiuskollegs in Bonn - gerade in den Jesuitenorden eingetreten und beginnt ein Philosophie- und Theologiestudium.
Katsch macht am Canisius-Kolleg sein Abitur und verschließt seine Erinnerung an den Missbrauch in "einer Rumpelkammer meines Bewusstseins", wie er in seinem Buch "Damit es aufhört" schreibt. "Scham und Schuldgefühle" beeinflussen in den Folgejahren sein Leben, "ohne dass es mir selbst bewusst wurde".
Lob, Mut und Morddrohungen
Mertes empfängt unterdessen 1986 die Priesterweihe, vier Jahre später tritt er zunächst in Hamburg in den Schuldienst ein, 1994 kommt er nach Berlin. Katsch studiert nach einem Freiwilligendienst in Chile Politik und Philosophie und arbeitet als Managementtrainer und Berater. Bei einer Veranstaltung vor rund 16 Jahren trifft er dann in Berlin einen seiner Peiniger wieder und nimmt Kontakt zu anderen Mitschülern auf. Zusammen mit zwei anderen entschließt sich Katsch, nicht länger zu schweigen.
Als sie den Skandal öffentlich machen, erfahren beide Männer neben viel Lob für ihren Mut auch viel Gegenwind. Mertes wird als "Nestbeschmutzer" beschimpft, er habe damals auch versteckte Morddrohungen erhalten, so erzählt er in Interviews. Beide lassen sich von der Kritik nicht beirren und engagieren sich in den Folgejahren weiter im Kampf gegen Missbrauch.
Entschädigungszahlungen an Betroffene
Mertes veröffentlicht Beiträge, in denen er die Sexualmoral sowie die kirchliche Einstellung zu Homosexualität kritisiert und begünstigend für einen Missbrauch ausmacht. Katsch arbeitet zunächst im Betroffenenrat des Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung. Seit zwei Jahren ist er in der unabhängigen Aufarbeitungskommission aktiv. Zudem arbeitet er an Vorschlägen mit, die Entschädigungen für Missbrauchsopfer in der katholischen Kirche von bis zu 400.000 Euro vorsehen und die aber schließlich verworfen werden.
Zu den Kritikern an dieser Forderung gehört Mertes. Sie entsprächen dem US-amerikanischen und nicht dem deutschen und europäischen Rechtssystem, so argumentiert er. Die Bischofskonferenz einigt sich auf eine Anerkennungszahlung für Betroffene von bis zu 50.000 Euro.
Unabhängige Aufarbeitung gefordert
In einem jüngst erschienen Interview der Wochenzeitung "Die Zeit" weist Mertes es weit von sich, selbst ein Aufklärer zu sein. Sein Handeln habe höchstens aufklärende Wirkung gehabt. Der Jesuitenpater fordert inzwischen eine gesetzlich verankerte, unabhängige Aufarbeitung.
Ähnlich denkt Katsch. Obwohl dieser am Zustandekommen der Gemeinsamen Erklärung zur strukturelllen Aufarbeitung beteiligt war, fordert er inzwischen das Eingreifen des Bundestags und die Einrichtung einer "Wahrheitskommission". Zu einer echten Aufarbeitung sei die Kirche nicht in der Lage, erklärte er vor dem Hintergrund der Ereignisse um die Gutachten-Veröffentlichung im Erzbistum Köln.