DOMRADIO.DE: Vor zehn Jahren ist in Berlin am Canisius-Kolleg der Missbrauchsskandal öffentlich geworden. Es hat einen großen Aufschrei in der Öffentlichkeit gegeben und auch in der katholischen Kirche. Im Februar 2010 wurden Sie Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz. Wie haben Sie die damalige Zeit erlebt?
Bischof Stephan Ackermann (Bistum Trier, Beauftragter der Deutschen Bischofskonferenz für Fragen des sexuellen Missbrauchs im kirchlichen Bereich und für Fragen des Kinder- und Jugendschutzes): Das war sehr aufgewühlt damals, vor allen Dingen während der Frühjahrsvollversammlung in Freiburg. Die Zeit war vom Erschrecken der Bischöfe geprägt, aber auch von einer gewissen Ratlosigkeit, wie mit diesem Thema umzugehen ist. Vor allen Dingen, weil es mit einer Wucht über die Versammlung hereingebrochen ist.
Und so kam es ja dann auch zu der Beauftragung für mich, dass die Mitbrüder mich gebeten haben, dem Thema auch ein Gesicht zu geben in der Bischofskonferenz, damit man weiß, wer für das Thema zuständig und auch für die Bischofskonferenz auskunftsfähig ist. Und wer dafür sorgt, dass auch die verschiedenen Initiativen, die wir ja damals schon beschlossen haben, miteinander vernetzt werden.
DOMRADIO.DE: Eine große Initiative war die MHG-Studie. Es geht in den einzelnen Diözesen weiter mit Untersuchungen. Wie sehen Sie den Prozess? Wo steht die katholische Kirche heute?
Ackermann: Wir haben uns dazu entschieden als Ergebnis der Studie, dass wir gemeinsame verbindliche Kriterien und Standards für Aufarbeitungsprozesse in den Diözesen haben möchten. Die Bistümer befinden sich natürlich in unterschiedlichen Situationen. Auch unmittelbar im Anschluss an das Veröffentlichen der Studie waren Bistümer unter einem unterschiedlichen Erwartungsdruck, wo etwa auch diözesane Gremien dann gesagt haben, dass es jetzt aber beginnen müsse. Sie wollten nicht länger warten, auch nicht auf gemeinsame Kriterien, sondern es musste gehandelt werden. Dadurch gibt es nun unterschiedliche Projekte.
Ich weiß aus den Reaktionen, dass Menschen dann natürlich auch sagen, das sei wieder so ein Flickenteppich. Die einen machen das so, die anderen machen das anders. Wir haben uns im vergangenen Jahr mit dem unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung und einer Arbeitsgruppe, die es bei ihm gibt, für dieses Thema Aufarbeitung dreimal getroffen. Wir haben eine gemeinsame Erklärung jetzt als Entwurf ausgearbeitet, wo es Strukturen und Kriterien gibt für diese Prozesse. Ich habe den Bischöfen die bereits zugeschickt, und wir werden jetzt bei den nächsten Treffen darüber beraten.
Und dann gehe ich mal davon aus, wenn wir so ein Gerüst haben von Strukturen und Prozessen, das wirklich den Namen Aufarbeitung verdient, dass dann all die Initiativen, die es jetzt schon gibt, sich da auch hineinbegeben können. Wenn sich da alle mit einbringen, dann kann wirklich auch zusammen nach gemeinsamen Standards Aufarbeitung stattfinden.
DOMRADIO.DE: Zehn Jahre Auseinandersetzung mit Missbrauch an Minderjährigen. Sie haben viele Opfer getroffen. Was hat das mit Ihnen gemacht?
Ackermann: Es hat wirklich viele Phasen der Trauer gegeben in den letzten Jahren, auch der Beschämung. Ich habe mich sehr oft für die Kirche, für meine Kirche geschämt. Bei all dem, was ich auch sehen musste, auch an Abgründigem – das hat natürlich auch meinen Blick auch auf die Kirche verändert, auf jeden Fall im konkreten Umgang. Etwa wenn es um die Frage von Ausübung von Macht geht. Natürlich hat jedes Amt, das Verantwortung übernimmt, auch Macht. Aber wie übe ich die so aus, dass sie wirklich dem Wohl der Sache, dem Evangelium und den Menschen dient? Wo gibt es subtile Formen, wo auch Amtsträger Macht missbrauchen? Wo bin ich selber in der Gefahr, auf subtile Weise Gewalt auszuüben auf Menschen?
Das ist ja nicht nur eine Frage sexualisierter Gewalt. Wir sind ja inzwischen auch viel sensibilisierter auch im Blick etwa auf spirituellen Missbrauch. Der Papst nennt das ja Missbrauch des Gewissens, wenn Menschen genötigt werden. Das beschäftigt mich schon sehr, und das ist eine Frucht auch der vergangenen zehn Jahre.
DOMRADIO.DE: Macht, Sexualmoral innerhalb der katholischen Kirche sind auch Themen, die jetzt im beginnenden synodalen Weg angesprochen werden sollen. Es gibt nun Gegner des Synodalen Weges, die auch davon sprechen, dass der Missbrauch hier missbraucht werde für eine kirchenpolitische Agenda. Wie sehen Sie das?
Ackermann: Die MHG-Studie wirkt mit ihren Ergebnissen katalysierend. Natürlich, die Ergebnisse der Missbrauchsstudie und auch all dessen, was wir in den letzten zehn Jahren erfahren haben, verschärfen bestimmte Fragestellungen, die aber nicht jetzt erst durch den Missbrauch aufgekommen sind. Das war meine Kritik an dieser Aussage "Missbrauch mit dem Missbrauch". Das sind ja Themen, die sind nicht neu. Aber sie haben eine andere Schärfe und Dringlichkeit gewonnen durch die Erfahrungen jetzt mit der Aufdeckung des Missbrauchs.
Und da brauchen wir jetzt wirklich offene, strukturierte Formate, um darüber zu sprechen. Das ist auch meine Hoffnung auf den Synodalen Weg. Das ist ja jetzt nicht völlig neu aufgekommen. Nein, die Themen sind da, die sind auch schon länger da. Wir müssen uns denen stellen. Es wäre nicht gut, wenn die einen Statements in die eine Richtung, die anderen Statements in eine andere Richtung abgeben. Es braucht den Dialog über diese Themen. Da braucht es natürlich Mut dazu. Da braucht es die Offenheit dazu, da braucht es auch einen Vertrauensvorschuss. Es geht nicht mit einer Misstrauenshaltung. Insofern steht uns da noch einiges bevor.
Das Interview führte Alexander Foxius.