DOMRADIO.DE: Herr Reize, Sie sind nun im September auch offiziell in Ihr Amt eingeführt worden, haben mit dem Chor schon geprobt und hatten auch schon Aufführungen. Wie fühlt sich das für Sie persönlich an, Thomaskantor in Leipzig zu sein, genauer gesagt der 18. Thomaskantor nach Johann Sebastian Bach?
Andreas Reize (Thomaskantor Leipzig): Das ist eine unglaublich vielfältige Aufgabe - so wie ich mir das auch vorgestellt habe. Wir haben hier in Leipzig die Trias zwischen Glauben, Lernen/Lehren und der Musik. Und das ist das, was mich auch besonders interessiert hat. Zum einen ganz stark natürlich das Kirchliche, das ich unglaublich vielfältig und farbig finde in der lutherischen Liturgie, die mir sehr nahesteht. Dann der pädagogische Aspekt, den ich als essentiell empfinde mit den Jungs.
Man ist wirklich schon als Thomaskantor auch Ansprechpartner für ganz vieles. Ich esse mit den Jungs zusammen, ich probe mit ihnen ganz intensiv. Ich verbringe aber auch einen Teil der Freizeit mit ihnen, z.B. auf dem Fußballplatz. Wir haben viele Gespräche. Es ist eine unglaublich vielfältig pädagogische Aufgabe, die mich sehr ausfüllt und auch erfüllt. Das kann ich so sagen. Und dann natürlich die Musik, die uns zusammenschweißt. Zum einen mit dem Chor, jeden Tag proben zu können, zu dürfen. Wir arbeiten wirklich sehr intensiv zusammen. Wir haben in kurzer Zeit doch schon sehr viel erreichen können. Und dann natürlich die tolle Zusammenarbeit in der Thomaskirche mit dem Gewandhausorchester, das ist eines der besten Orchester überhaupt. Da kann ich mir nichts Schöneres vorstellen. Thomaskantor ist eine tolle Kombinationsaufgabe.
DOMRADIO.DE: Wie war die erste Probe als Thomaskantor mit den Sängern? Wie war es, das erste Mal mit den Sängern musikalisch arbeiten zu können?
Reize: Toll! Wir waren in Ochsenhausen, da haben wir eine Chorfreizeit gemacht. Wir waren im großen Saal der Klosters, das umgebaut worden ist. Ich habe ein Einsingen im Kreis gemacht, wir haben uns im ganzen Raum verteilt, das waren die Sänger überhaupt nicht gewohnt. Aber das hat dann ganz schnell gefunkt. Der erste Eindruck war einfach, dass ganz vieles möglich ist, wenn man da gut zusammenspannt. Und das tun wir.
DOMRADIO.DE: Sie sind ja als neuer Thomaskantor auch geholt worden, um unter anderem einen neuen Blick auf Johann Sebastian Bach zu werfen. Haben Sie schon eine Vision für sich entwickelt, wie Sie Ihren Blick mit dem Chor zusammen auf Johann Sebastian Bach vielleicht verändern wollen?
Reize: Verändern wollen wir den Blick nicht, die Musik ist einfach so gut! Aber es gibt verschiedene Ansätze. Mein Ansatz ist sicher der musikwissenschaftlich orientierte einerseits, also dass ich mich intensiv mit den Werken auseinandersetze, etwa mit den Original-Quellen und da habe ich natürlich durch das Bach-Archiv in Leipzig direkten Zugang, wenn ich etwas suche. Das ist mal das eine. Das andere ist dann der Zugang zur Musik.
Wir haben mit dem Gewandhausorchester ein Orchester mit modernen Instrumenten. Ich habe viel Erfahrung mit historischen Instrumenten sammeln können und habe auch an der Oper in Biel Solothurn angewandte historische Aufführungspraxis betrieben, mit viel Freude, mit viel Erfolg auch. Und das versuchen wir jetzt im Gewandhausorchester umzusetzen.
Ich kenne sehr viele Quellen, auch aus der damaligen Zeit. Aber ich will die Musikerinnen und Musiker nicht damit "zutexten". Ich denke, ich versuche, das einfließen zu lassen, wo ich merke, dass es uns was bringt. Das Orchester ist sehr offen und da lässt sich vieles auch realisieren, was meinen Wünschen entspricht.
Dann gibt es die historischen Quellen zum Singen. Da gibt's ja auch viel aus der Barock-Zeit. Das ist sicher wichtig, dass ich die Quellen als Kantor kenne. Ich habe es hier aber mit neunjährigen Jungs zu tun und denen kann ich schon was über Christoph Bernhard und über Heinrich Schütz (beides Komponisten des 17. Jahrhundertes, d. Red.) erzählen, wie das damals vielleicht geklungen hat. Aber immer sehr sachte. Es wichtig, das gut vorzumachen. Ich glaube, das ist das A und O, in der Stimmbildung, im Einzelunterricht, da passiert ja die stimmbildnerische Arbeit. Da erarbeiten wir die Basics auf einem modernen pädagogischen Gesamtkonzept. Und das andere - die Aufführungspraxis, wie man zum Beispiel den Gesangston entlastet, ohne dass man mit der Stütze weggeht - das versuche ich dann in der Chorarbeit zu vermitteln.
DOMRADIO.DE: Ihr Einstieg fällt mitten in die Corona-Krise, die hat vielen Chören sehr zugesetzt, weil sie über Monate nicht proben und auftreten konnten. Wie ist Ihr Eindruck, wie es dem Thomnerchor vor Corona und jetzt gegen Ende der Corona-Krise geht?
Reize: Ich habe in der Schweiz ja auch einen Knabenchor geleitet. Und da war wirklich die Corona-Zeit ganz schwierig. Aber: Beim Thomanerchor und auch in Solothurn bei meinem damaligen Chor hat kein einziger der Jungs aufgehört. Das spricht doch wirklich für das System, die Freude am gemeinsamen Singen in einer jungen Gruppe. Aber gleichzeitig haben sich doch in Solothurn kaum Jungs zum Singen angemeldet.
Das ist hier in Leipzig anders. Wir haben soviele Sänger wie noch nie in der Geschichte des Thomanerchors. Wir sind 107 Sänger im Moment. Wir sind eigentlich fast voll und das heißt, wir haben ganz viele Jungs, die aber dann auch weniger Chor-Erfahrung mitbringen, zum Beispiel die fünften Klassen vom letzten Jahr. Die sind eigentlich kaum chorerfahren, weil sie ja kaum singen durften. Das heißt, wir haben jetzt zwei Klassen parallel. Das sind über 30 Jungs, die es jetzt zu integrieren gilt. Und es ist viel Arbeit, aber auch eine Arbeit mit viel Freude, weil die Jungs sehr gewillt sind und sehr gut mitmachen. Aber das braucht etwas Zeit.
DOMRADIO.DE: Sie haben ja schon mal ein bisschen über Ihre unterschiedlichen Aufgaben gesprochen und haben auch schon den gottesdienstlichen Bereich genannt. Sie dürften seit der Reformation der erste Katholik sein, der jetzt das Amt des Thomaskantors übernimmt. Haben Sie den Eindruck, dass es vielleicht sogar eine Bereicherung ist, weil Sie eben noch mehr als ausschließlich die lutherische Liturgie kennen? Oder sagen Sie, das spielt keine große Rolle, weil einfach das Verbindende zwischen den Konfessionen sehr groß ist?
Reize: Das ist das, was ich genau ansprechen möchte. Das ist die Verbindung zwischen den Konfessionen. Meine große Leidenschaft gehört der Liturgie und der Kirchenmusik. Wir sprechen ja hier in Sachsen bei der lutherischen Kirche von einer Liturgie, während zum Beispiel in der reformierten Kirche in der Schweiz eigentlich nicht von Liturgie gesprochen wird. Das heißt, ich bin in einem katholischen Haus aufgewachsen. Meine Mutter war Religionspädagogin am Dom in Solothurn, an den Schulen und da habe ich diese doch wunderbare Tradition der Liturgie kennengelernt. Gleichzeitig hatten wir aber immer an unserem Mittagstisch die Pfarrerin der reformierten Stadtkirche - wirklich jeden Tag. Und da haben sich ganz tolle Gespräche ergeben. Ich bin wirklich mit und zwischen den Konfessionen aufgewachsen und habe ja dann in Zürich und in Bern auch bei evangelisch orientierten Kirchenmusik-Hochschulen und Konservatorien studiert und habe da wirklich beide Facetten mitbekommen.
DOMRADIO.DE: Was sollen denn die Thomaner, die jetzt bei Ihnen anfangen, mitgenommen haben, wenn die dann in einigen Jahren aus dem Chor wieder ausscheiden - was sollen die dann vom Thomaskantor Andreas Reize mitgenommen haben?
Reize: Ich denke, ganz wichtig ist die Gemeinschaft, das Gefühl zusammen was erreichen zu wollen. Wir sind ja nicht Einzelsänger, Einzelspieler, sondern wir sind ein Team. Ein Knabenchor hat eine unglaubliche Identität, von klein zu groß. Und ich glaube, diese Identität der Kleinen zu den Großen und umgekehrt, dieses gemeinsame Miteinander, diese Achtsamkeit, auch aufeinander, die wollen wir hier fördern und zwar das ganze pädagogische Team, das ganze musikalische Team mit Thomaskantor, mit Geschäftsführung, mit allem Drum und dran. Das ist uns ganz wichtig, dass die Jungs wirklich in einer Gemeinschaft groß werden, in der die gegenseitige Achtsamkeit großgeschrieben wird. Und dann lassen sich auch musikalisch Bäume versetzen.
Das Interview führte Mathias Peter.