Gastkommentar zur Missbrauchsaufarbeitung

Institutionelle Aufarbeitung braucht strukturelle Klarheit

Das Erzbistum Köln will die beiden Stabsstellen Intervention und Aufarbeitung in einer neuen "Stabsstelle Intervention & Aufarbeitung" zusammenfassen. Jochen Sautermeister fordert in seinem Gastkommentar strukturelle Klarheit.

Autor/in:
Jochen Sautermeister
Jochen Sautermeister, Moraltheologe und Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Bonn / © Julia Steinbrecht (KNA)
Jochen Sautermeister, Moraltheologe und Dekan der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Bonn / © Julia Steinbrecht ( KNA )

Die katholische Kirche ist nolens volens zu einer Vorreiterin der Aufarbeitung und Prävention von sexualisierter Gewalt in unserer Gesellschaft avanciert. Wenngleich hierbei nicht alle (Erz-)Diözesen und Ordensgemeinschaften gleichermaßen voranschreiten, lässt sich doch das Engagement insgesamt nicht leugnen. Der Druck seitens der Betroffenen, unterstützt durch die Medien, und der Mut von Personen in der Kirche, sich dieser Aufgabe zu stellen, haben zu einem point of no return geführt, an dem sich die Kirche heute messen lassen muss.

Dabei erweist sich die Aufarbeitung als ein durchaus diffiziles Geschäft, das mit vielerlei Fallstricken, Missverständnissen und Verletzungen verbunden ist. Die Bemühungen in verschiedenen (Erz-)Diözesen könnten hierfür beredte Beispiele liefern. Kontroversen und Konflikte bis hin zu Zerwürfnissen unter den Betroffenen, zwischen Betroffenen und institutionellen Verantwortungsträgern oder auch zwischen institutionell Verantwortlichen können die Folge sein. Dabei können all die Bemühungen und Erfolge leicht in den Hintergrund geraten, die es verdienen gewürdigt zu werden.

Aus einer psychodynamisch-systemischen Perspektive sind solche Spannungen, Konflikte und Zerwürfnisse im Rahmen von Aufarbeitungsprozessen grundsätzlich nicht überraschend. Denn in ihnen spiegeln sich höchst individuelle Verarbeitungsmuster und unterschiedliche Erwartungen, traumatische Dynamiken der Abspaltung und Verdrängung sowie idealisierte Versöhnung- und Heilungshoffnungen wider, die zwischen Tendenzen des Abschließens und des bleibenden Mahnens und Erinnerns oszillieren. Oder anders gesagt: Man muss damit rechnen, dass das Grenzüberschreitende und Übergriffige der sexualisierten Gewalt gegenüber den Betroffenen sich auch in der Institution wiederfindet, in der der Missbrauch begangen wurde. Strukturen und systemische Kultur charakterisieren die Institution. Das Trauma der sexualisierten Gewalt lässt die Institution nicht unberührt. Daher prägen auch traumatische Dynamiken die Institution.

Mit der Verpflichtung zur Aufarbeitung übernehmen Institutionen die "Verantwortung für die Vergangenheit in ihrer Institution", wie es in den Empfehlungen der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs heißt. "Sie soll sichtbar machen, ob es unter den Verantwortlichen in den Institutionen zu dem Zeitpunkt des Missbrauchs eine Haltung gab, die Gewalt begünstigt und Kinder oder Jugendliche abgewertet hat, und sie will klären, ob und wenn ja warum sexueller Kindesmissbrauch in einer Einrichtung vertuscht, verdrängt, verschwiegen wurde." Damit leistet Aufarbeitung zugleich einen Beitrag zur Prävention und zur Anerkennung des Leids der Betroffenen.

Institutionelle Aufarbeitung ist daher klar von der individuellen Bearbeitung des Traumas zu unterscheiden. Die individuelle Auseinandersetzung unterliegt anderen Dynamiken und Prozessen, in denen Betroffene sich um eine Bewältigung des Traumas bemühen. Die Aufarbeitung in Institutionen dient dagegen dem Aufdecken von Tätern, Bystandern und Vertuschern sowie einer systemischen Gewalt- und Schuldgeschichte, um präventive Konsequenzen zu ziehen und möglichst für Gerechtigkeit für die Betroffenen zu sorgen. Aufarbeitung gilt somit der Institution und steht im Gegensatz zum Schutz der Institution, was das Vertuschen von sexuellem Missbrauch begünstigt hat.

Angesichts der übergriffigen Dynamik von sexualisierter Gewalt, die sich auch in der Dynamik der Institution widerspiegelt, bedarf es eines besonderen Bewusstseins für Rollenklarheit und struktureller Klarheit. Andernfalls besteht die Gefahr, selbst die grenzüberschreitende Dynamik im institutionellen Agieren weiterhin abzubilden und damit die Betroffenen noch stärker zu belasten. 

Gerade mit ihrer Option für die Armen steht die Kirche in der Versuchung, im Umgang mit Betroffenen auf unheilsame Weise Rollen zu vermischen. Der Jesuitenpater Klaus Mertes hat hierauf eindringlich hingewiesen: "Es ist … ein Unterscheid, ob man sich Gewaltopfern zuwendet, die Gewalt von anderen Personen erfahren haben, oder ob man selbst ihnen Gewalt angetan hat – durch Gewalttat, durch Unterlassung von Schutz, durch Zurückweisung oder durch Vertuschung." Gerade aufgrund der systemischen Dimension von sexuellem Missbrauch vermag eine individualisierte Zuschreibung der Gewalt auf einzelne Täter das ganze Ausmaß nicht zu erfassen. Das hat erhebliche Konsequenzen.

"Die Kirche in Gestalt ihrer bischöflichen und theologischen Repräsentantinnen und Repräsentanten kann den Opfern diesen Trost und diesen Beistand nicht selbst aktiv ad personam predigen. Sie ist es ja, die die Wunden geschlagen hat, die nun der Heilung bedürfen." Mit dieser schmerzhaften und unbequemen Einsicht verweist Pater Mertes auf einen entscheidenden Punkt. Institutionelle Aufarbeitung und individuelle Verarbeitung sind nicht nur klar voneinander zu trennen, sondern mehr noch: Die kirchliche Absicht, Betroffene bei der persönlichen Bewältigung der sexualisierten Gewalt zu begleiten und zu unterstützen, droht diese Differenz zu übersehen und die unterschiedlichen Rollen zu verwischen.

Eine Einsicht gründlicher Aufarbeitung müsste es daher sein, auch innerhalb der Institution für klare Strukturen zu sorgen. In der jüngsten Presseerklärung des Erzbistums Köln zur Zusammenlegung der beiden Stabsstellen Intervention und Aufarbeitung zu einer neuen "Stabsstelle Intervention & Aufarbeitung" (pek240326) wird dieser Schritt unter anderem damit begründet, dass "die individuelle mit der institutionellen Aufarbeitung vereint und Erkenntnisse aus der direkten Zusammenarbeit mit Betroffenen und den daraus resultierenden Veränderungen im Erzbistum Köln umgesetzt werden" können. Die Presseerklärung wirbt für diese Zusammenführung mit dem Anliegen, "die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt dauerhaft in der Struktur des Erzbistums Köln zu verankern". Die neue, erweiterte Stabstelle wolle sich "für die Interessen und den Schutz der Betroffenen einsetzen".

Die Verstetigung der Aufarbeitung in einem (Erz-)Bistum ist zweifelsohne wichtig und zu begrüßen. Denn institutionelle Aufarbeitung ist eine bleibende und nicht abzuschließende Arbeit. Dabei darf sie keinesfalls mit der Intervention, der es um den konkreten Schutz der Betroffenen geht, vermischt oder in einen Topf geworfen werden. Weshalb die "Stabsstelle Aufarbeitung" daher in der "Stabsstelle Intervention & Aufarbeitung" aufgeht und nicht mit der "Stabsstelle Prävention" fusioniert wird, wird von der Presseerklärung nicht thematisiert. Vielmehr scheint diese in ihrem Duktus mehr Fragen aufzuwerfen als zu Klärungen zu führen. Denn auch mit einer eigenen "Stabsstelle Aufarbeitung" ließe sich dieses Anliegen in der Struktur des Erzbistums Köln dauerhaft etablieren. Man könnte sogar im Organigramm sichtbar für strukturelle Klarheit und klare Zuständigkeiten sorgen. Insofern das Erzbistum Köln in anderen Bereichen für einen Stellenaufbau gesorgt hat, können finanzielle Aspekte bei der Fusionierung der Stabsstelle wohl eher nicht die entscheidende Rolle gespielt haben. Bleibt zu hoffen, dass die erforderliche strukturelle Klarheit, die für Prävention, Intervention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt notwendig ist, nicht durch organisatorische Entscheidungen unterlaufen wird. Denn dann wäre es ein Rückschritt im selbstgesetzten Anspruch der institutionellen Aufarbeitung, wie es vom Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs und der Deutschen Bischofskonferenz im Jahr 2020 vereinbart worden ist.

Über den Autor: Prof. Dr. Dr. Jochen Sautermeister ist Professor für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn und Mitglied des Kuratoriums des Instituts für Prävention und Aufarbeitung von sexualisierter Gewalt (IPA) e.V.,

Quelle:
DR