domradio.de: Die rund 300.000 "Euthanasie"-Opfer gelten als "vergessene Opfergruppe", warum?
Purmann: Das hat viele Gründe. Der erste Grund ist, dass Menschen mit Behinderung, mit chronischen Erkrankungen, Menschen, die lange in der Psychiatrie gelebt haben, keine große Lobby haben in unserer Gesellschaft und bedroht sind von Ausgrenzung. Der andere Grund ist, dass die Täter, die für diese hunderttausendfachen Morde verantwortlich sind, nicht die typischen Nazi-Täter sind, sondern hochqualifizierte Ärzte, die zum Teil auch noch nach dem Krieg in Deutschland praktiziert haben. Und der letzte Grund ist, dass die Familien und Angehörigen mit dem Tabu der sogenannten erblichen Belastung belastet waren und sich auch nicht so sehr fürs Gedenken für diese Opfer eingesetzt haben.
domradio.de: Es gibt ja Gedenkstätten zum Beispiel für die Opfer der Nazis, für Juden, für Roma und Sinti, für Homosexuelle. Warum dauert das mit den Euthanasie-Opfern so lange?
Purmann: An diesem Ort an der Tiergartenstraße 4, wo die Zentrale der Morde gewesen ist, besteht seit 1987 eine kleine Bodenplatte, die an die vergessenen Opfer erinnert. Das war damals eine Bürgerinitiative. Der Deutsche Bundestag hat 1999 dann beschlossen, dass für alle Opfergruppen der Nazi-Verbrechen würdiges Gedenken in Berlin entstehen soll. Und tatsächlich, die 300.000 Opfer der Patientenmorde sind die letzte Opfergruppe, die heute nun endlich auch in der Bundeshauptstadt an dem Ort, an dem die Planung für die Verbrechen geschehen sind, ein Ort des würdigen Gedenkens bekommen.
domradio.de: Lassen Sie uns nochmal an diese Verbrechen erinnern. was haben die Nazis denn gemacht mit den Behinderten und psychisch Kranken? Gibt es da ein Beispiel, an dem Sie uns das verdeutlichen können?
Purmann: Ja, auf unserer Homepage www.gedenkort-t4.eu haben wir Opfer-Biographien gesammelt. Hier habe ich die traurige Geschichte von Walburga Kessler, die 1918 im Allgäu geboren worden ist und 1944 in Irrsee umgebracht worden ist. Das Opfer war, so würde man heute sagen, mehrfach behindert. Sie ist in den Dreißiger Jahren in eine Heilanstalt gekommen. Die Geschichte ist sehr gut dokumentiert von dem Urgroßneffen. Sie ist dann, weil sie bettlägerig war und in keiner Weise Leistungen erbringen konnte - Leistungsfähigkeit war ein Kriterium fürs Ermordetwerden - 1944 ermordet worden. Den Angehörigen wurde das verheimlicht. Man hat ihnen gesagt, sie sei an einer Infektionskrankheit gestorben. Dieses Einzelbeispiel ist typisch für die vielen Opfern, die damals in den Heil- und Pflegeanstalten, in den Krankenhäusern einfach zum Opfer geworden sind, wenn sie nicht im Sinne der Leistungsideologie der Nazis funktioniert haben.
domradio.de: Welches Interesse hatten die Nazis daran, diese Menschen umzubringen?
Purmann: Zum einen gab es eine ideologische Vorgabe, ein ideologisches Bild, dass man erbkranken Nachwuchs verhüten oder später sogar ausmerzen wollte. Das deutsche Volk sollte veredelt werden. Alle, die da nicht hineinpassten, die Leistungsschwächeren, die Behinderten mussten raus. Dazu kommen natürlich auch, ganz einfach, Zweckmäßigkeitsüberlegungen. Man wollte Personal einsparen, man wollte Geld einsparen, man wollte Räume einsparen und Ressourcen für andere Zwecke einsetzen. Ein Gebräu aus ideologischen Gründen und Überlegungen der Zweckmäßigkeit aus der Sicht der Nazis.
domradio.de: Jetzt haben Sie heute diese Gedenkstätte eingeweiht. Welcher aktuelle Appell soll auch von dieser Gedenkstätte ausgehen? Gibt es etwas, was Sie auch der Gesellschaft jetzt, im 21. Jahrhundert damit sagen möchten?
Purmann: Ganz wichtig ist, glaube ich, dass man sich einfach mit diesem Teil der Geschichte beschäftigt. Dass man sich einfach die Schicksale der Menschen anschaut. Dass man, bei allen Diskussionen, die wir heute haben über Reproduktionstechnologie, über Sterbehilfe, bei allen bioethischen Fragen, die heute aktuell sind, bei der großen Frage der genetischen Disposition, immer auch in die Vergangenheit schaut. Nicht, dass man daraus unbedingt so viel lernen kann für heute, aber dass man einfach diese Dimension mitnimmt, dass eine Gesellschaft auf einen schlüpfrigen Abhang gerät, wenn man anfängt, die Rechte der Schwachen, das Recht auf Leben, auf Würde in Frage zu stellen. Am Ende dieses Abhangs würden der ganzen Gesellschaft Probleme entstehen.
Das Gespräch führte Matthias Friebe.