Sollten die bislang mehr als 90.000 Toten "nicht zu einem Volkstrauertag in jedem Jahr führen?", heißt es in einem Brief des 95-jährigen Theologen.
Vorschlag: Allerseelen
"Wir gedenken doch auch der Kriegstoten. Allerseelen wäre ein solcher Tag, an dem wir gemeinsam der Corona-Toten gedenken und um sie trauern", gab Moltmann zu bedenken. Das katholische Allerseelenfest wird in jedem Jahr am 2. November begangen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hatte am 18. April in Berlin eine einmalige zentrale Gedenkfeier für die in der Corona-Pandemie Verstorbenen ausgerichtet.
Mahnung gegen Verdrängung
In der Covid-19-Pandemie würden Politiker, Mediziner und Medien meist nur auf die technische Vernunft setzen und die Toten vergessen, beklagte Moltmann: "Jede Nachrichtensendung nennt nur die 'Todesfälle'." Moltmann erinnerte in diesem Zusammenhang an das Buch "Die Unfähigkeit zu trauern" der Psychoanalytiker Margarete Mitscherlich (1917-2012) und ihres Mannes Alexander (1908-1982) aus dem Jahr 1967. Darin werfen sie den Deutschen vor, ihre Schuldverstrickungen in der NS-Zeit zu verdrängen.
Unfähigkeit zu trauern
Das Buch kennzeichne "die Kriegs- und Nachkriegsgeneration, zu der ich gehöre", erklärte Moltmann. Er zitierte US-Präsident Joe Biden, der im Zusammenhang mit der Corona-Krise die Amerikaner davor gewarnt hatte, taub gegenüber dem Leid zu werden. Denn, so Moltmann, mit der "Unfähigkeit zu trauern" gehe ein Stück Menschlichkeit verloren: "Die technische Vernunft kann nicht trauern."
Jürgen Moltmann ist einer der bekanntesten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts. Seine 1964 erschienene "Theologie der Hoffnung" wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und hat Theologen weltweit beeinflusst. Moltmann wurde am 8. April 1926 in Hamburg geboren. Er war mit der feministischen Theologin Elisabeth Moltmann-Wendel verheiratet, die 2016 starb. Er lehrte von 1967 bis zur Emeritierung 1994 Systematische Theologie und Sozialethik an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen.