KNA: Herr Ernst, welchen Stellenwert hatten Beschwörungen und Segen für die Menschen im Mittelalter?
Ernst: Die Menschen des 6. bis 12. Jahrhunderts lebten in einer verzauberten Welt. Sie waren sehr gläubig, die christliche Religion bestimmte ihr ganzes Leben. Mönche und Mönchsärzte verwendeten und entwickelten Heilspruchtexte als Begleitinstrumente bei der Krankenversorgung. Die Worttherapie war Teil einer ganzheitlichen Medizin. Doch auch im Alltag des einfachen Volkes spielten Segen und Heilssprüche eine wichtige Rolle. Hebammen und Heilerinnen wendeten sie an.
KNA: Hatten die Sprüche einen festen Aufbau?
Ernst: Die Formeln waren sehr vielfältig. Der Vorläufer des heutigen Blasiussegens etwa lautete: "Wie Jesus Christus Lazarus aus dem Grabe zog und Jonas aus dem Walfisch, so befiehlt Blasius, der Märtyrer und Diener Gottes: Knochen komm heraus oder geh herunter!" Mädchen in der Oberpfalz sprachen folgenden Liebeszauber: "Grüß dich Gott, mein lieber Abendstern, ich seh dich heut und allzeit gern. Scheint der Mond übers Eck, meinem Herzliebsten aufs Bett, lass ihm nicht Rast, lass ihm nicht Rou, dass er zu mir kommen mou." Die Sprüche waren meist Teil eines festen Ritus. Oft wurde der eigentliche Segen von einem Gebet, einem Glaubensbekenntnis oder Vater Unser gerahmt.
KNA: Bei welchen Krankheiten wirkten die Zaubersprüche und Heilssegen?
Ernst: Sie halfen manchmal offenbar bei Notfällen wie Blutungen, akuten Schmerzen, Anfällen, Fieber, Halsenge oder Panikattacken. Bei Pest, Epilepsie und schweren chronischen Krankheiten wie Krebs waren die Sprüche allerdings unwirksam und konnten höchstens Trost spenden. Auch Liebeszauber waren mehr Selbstzauber und Ersatzhandlungen.
KNA: Wie lässt sich die positive Wirkung aus neurobiologischer Sicht erklären?
Ernst: In einer Notfallsituation ist der Kranke in einer gespannten Erwartung. Er ist empfänglich für bestimmte Signalworte des Arztes. Das Gehirn - genauer die Hirnrinde im linken Schläfenbereich und der Mandelkern mit dem limbischen System - deutet die Worte des Heilers aus der Lebenserfahrung. Bestimmte Signalworte und Symbole, zum Beispiel "Jesus Christus" oder ein Kreuz, rufen beim Patienten eine innere Verwirrung und Assoziationen hervor. Das Hirn neigt dazu, die Worte und Bilder einer Erzählung harmonisch zu interpretieren und ihnen eine Bedeutung zuzuschreiben, die in Wirklichkeit nicht besteht. Die Aufmerksamkeit des Kranken wird so zum Beispiel auf Jesus Christus gelenkt und Jesus Christus wird für den Kranken gegenwärtig. Diese Gehirntäuschung unterstützt den Heilungsprozess.
KNA: Wie wichtig war der Glaube an Christus für die Wirksamkeit eines Segens?
Ernst: Der Glaube war eine entscheidende Voraussetzung. Jesus Christus war für die Menschen des Mittelalters die Autorität schlechthin. Der persönliche Glaube, die Beziehung zwischen Patient und Heiler und das kulturelle Umfeld hatten Einfluss auf die Wirksamkeit des Segens. Heute sind diese Voraussetzungen in der westlichen Welt nicht mehr gegeben. Die Sprüche haben ihre Wirkung verloren.
KNA: Bis heute wird jedoch der Heilige Blasius angerufen...
Ernst: Der Blasiussegen ist ein Ausnahmefall unter den Segenssprüchen. Im 6. Jahrhundert wurde er von Ärzten geschaffen und erst im 16. Jahrhundert von der Kirche übernommen. Der Heilige Blasius soll einen Jungen vor dem Erstickungstod an einer Gräte gerettet haben. Diese Legende wurde in den Segensspruch eingebaut. Bei Menschen, die diese Legende kennen, wirkt der Segen vorbeugend, wie ein Warnsignal. Wenn sie beim Fischessen an Blasius denken, passen sie automatisch auf, dass sie keine Gräte verschlucken.
Das Gespräch führte Bettina Nöth.
Hintergrund: Magische Sprüche, Segensformeln und Beschwörungen dienten im Mittelalter als Erste-Hilfe-Maßnahmen bei Notfällen. Der Coburger Neurologe und Psychiater Wolfgang Ernst vertritt diese These in seinem Buch "Beschwörungen und Segen. Angewandte Psychotherapie im Mittelalter".
Geschichte und Bedeutung des Blasiussegens
Von der Legende zum Segensspruch
Am 3. Februar wird traditionell der Blasiussegen von der katholischen Kirche gespendet. Benannt ist er nach dem armenischen Bischof Blasius, der um das Jahr 316 unter dem römischen Kaiser Licinius den Foltertod starb. Über den Blasiussegen der Psychiater und Autor Wolfgang Ernst.
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