Als "Ausnahmeerscheinung" bezeichnet ihn der britische Historiker Robert Service in seiner Lenin-Biographie. In der Tat schuf Wladimir Iljitsch Uljanow Gewaltiges - und Gewalttätiges. Mit der Sowjetunion gründete er den ersten sozialistischen Staat der Welt, der bis zu seinem Zerfall 1991 die Politik prägte. Zugleich, so Service, rechtfertigte der Revolutionär Diktatur und Terror.
Am 22. April 1870, vor 150 Jahren, wurde Uljanow in Simbirsk an der Wolga geboren. Bereits in seiner Jugend machte der Sohn eines angesehenen und wenig später geadelten Lehrers Erfahrungen mit Heimatlosigkeit und politischer Gewalt. Sein älterer Bruder Alexander wurde 1887 hingerichtet, weil er sich einer Gruppe angeschlossen hatte, die den russischen Zaren Alexander III. ermorden wollte.
Studium in Sankt Petersburg
Zum Studium schrieb sich Uljanow deshalb nicht in Sankt Petersburg ein, dem politischen und gesellschaftlichen Zentrum des Zarenreichs, sondern an der Kaiserlichen Universität in Kasan, etwa 700 Kilometer östlich von Moskau. Dass der in vielen Disziplinen begabte junge Mann ausgerechnet Jura als Fach wählte, stieß bei Familie und Freunden auf Unverständnis.
Aber vielleicht entsprach die Rechtswissenschaft jenem Bedürfnis nach Gerechtigkeit, das sich bei Wladimir schon in frühen Jahren äußerte. Lange vor den Schriften der deutschen Kommunisten Karl Marx und Friedrich Engels zählte ein Roman über das Elend der Sklaven in den USA zu seiner Lieblingslektüre: "Onkel Toms Hütte" von Harriet Beecher Stowe.
An der Uni in Kasan hielt es Uljanow freilich nicht lange - ähnlich wie sein Bruder Alexander fiel er als Protestler bei den Behörden in Ungnade, mit freilich deutlich milderen Ergebnissen. Der Unruhestifter flog von der Hochschule, konnte aber sein Studium 1891 als Externer an der Universität von Sankt Petersburg abschließen. Dazwischen lagen ausgedehnte Wanderjahre durch Zentralrussland und Sibirien, in denen der spätere Kommunist hauptsächlich vom Vermögen der eigenen Familie lebte - ein ganz eigener Fall von marxistischer Dialektik.
"Avantgardemacht der Internationalisierung"
Unterdessen wurden die tiefen Risse in Russland immer offensichtlicher. Einerseits präsentierte sich das Riesenreich an der Wende zum 20. Jahrhundert etwa mit dem Bau einer Eisenbahnlinie von Moskau nach Peking als "Avantgardemacht der Internationalisierung", so der Bonner Osteuropa-Historiker Martin Aust. Andererseits lebten die Menschen in der Provinz oft noch wie ihre Altvorderen im 16. Jahrhundert.
Der amtierende Zar Nikolaus II. regierte mit harter Hand, und doch entglitten ihm die Zügel der Macht immer mehr. Ein Drittel Russlands befinde sich "im Zustand verschärfter Überwachung", beklagte der Schriftsteller Lew Tolstoj 1902 in einem Brief an den Zaren. Der Absolutismus sei "eine überlebte Regierungsform."
Im gleichen Jahr erschien - unter dem Pseudonym Lenin - eine programmatische Schrift mit dem Titel "Was tun?", mit denen sich Uljanow in der Szene von Weltverbesserern und Umstürzlern einen Namen machte. Das Pamphlet war in München entstanden, einem von vielen Exilorten Lenins. Später kamen unter anderem London und Paris hinzu.
Die Gunst der Stunde
Von Zürich aus ging es dann 1916 endgültig zurück in die Heimat. Mitten im Ersten Weltkrieg, auf einer Zugfahrt quer durch das deutsche Kaiserreich, das mit diesem Coup die politischen Verhältnisse in Russland durcheinanderbringen wollte. "Dass er sich dort durchsetzen würde, war zu diesem Zeitpunkt keinesfalls ausgemacht", urteilt Historiker Aust.
Doch Lenin ergriff die Gunst der Stunde. Trotz chaotischer Machtverhältnisse am Ende des Ersten Weltkriegs, trotz zunehmender gesundheitlicher Probleme und seiner Neigung zu unkontrollierten Wutausbrüchen blieb er ein "politischer Krieger"; seine Aggressionen verstand er laut Robert Service in politisches Kapital umzumünzen.
Der Revolutionsführer starb am 21. Januar 1924. Seine Ideologie hat sich überlebt. Selbst in seiner eigenen Heimat verblassen die Erinnerungen angesichts der Verwerfungen der Gegenwart. Lenins balsamierter Leichnam liegt aber immer noch in einem Mausoleum vor dem Kreml in Moskau. Und seine Geburtsstadt trägt ihm zu Ehren seit 1924 den Namen Uljanowsk.