Präsidentschaftskandidat Joe Biden rückt im US-Wahlkampf nahezu täglich seinen katholischen Glauben ins Zentrum seiner Identität. Amtsinhaber Donald Trump positioniert sich derweil als Beschützer des Christentums. Und wer die Parteitage von Demokraten und Republikanern mit ihren religiösen Gastrednern erlebte, durfte denken, es ginge bei den Wahlen am 3. November um den gottgefälligsten Kandidaten für das Weiße Haus.
Religion auf dem Rückzug
Tatsächlich befindet sich die Religion auch in den USA auf dem Rückzug. Die Realität entspricht nicht mehr dem Klischee der gottesfürchtigen Nation, mit dem Trump und Biden noch immer Politik machen. Laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts PEW fühlt sich ein Viertel der US-Amerikaner heute keiner Religion mehr zugehörig. Unter den 20- bis 40-Jährigen und weißen Demokraten sogar ein Drittel.
Für den Politologen Ronald F. Inglehart steht fest, die lange so fromme Supermacht USA befindet sich auf dem Weg in die Religionsferne. Der Wissenschaftler der University of Michigan prophezeit den USA kulturelle Veränderungen mit Folgen. Auf einer Skala von 1 ("überhaupt nicht wichtig") bis 10 ("sehr wichtig") antworteten vor etwas mehr als einer Dekade US-Amerikaner auf die Frage, wie wichtig ihnen Gott in ihrem Leben ist, im Schnitt noch mit einer Punktezahl von 8,2. Vor drei Jahren lag der Wert nur noch bei 4,6, schreibt Inglehart in seinem aktuellen Buch "Religion's Sudden Decline" (Der plötzliche Niedergang der Religion).
Dafür spricht auch das Ergebnis einer aktuellen Umfrage unter 3.000 Amerikanern, die die Demoskopen von LifeWay Research durchgeführt haben. Demnach halten 52 Prozent der erwachsenen US-Amerikaner Jesus zwar für einen "großen Lehrer", nicht aber für Gottes Sohn.
Glaubensfreiheit in der Verfassung verankert
Ein erstaunlicher Befund in einem Land, dem der englische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton einmal attestierte, die Nation habe die "Seele einer Kirche". Die Bedeutung der Religion in der Verfassung ist durch den Ersten Verfassungszusatz so prominent wie in kaum einem anderen Land hervorgehoben. Sie erlaubt jedem einzelnen die Freiheit, nach unterschiedlichen Glaubensbekenntnissen zu leben - wozu auch der Nicht-Glaube zählt.
Laut Pew nahm die Zahl bekennender Christen in den letzten zehn Jahren um zwölf Prozent ab. Was auch in den Kirchenbänken Lücken reißt. Im gleichen Zeitraum ist der Anteil der Atheisten, Agnostiker oder derjenigen, die sich als "nichts Bestimmtes" bezeichnen - den "Nones" - um 17 Prozent gewachsen. Sie stellen heute rund ein Viertel der erwachsenen US-Bevölkerung.
Jüngere Generation kein Interesse an Gott
Vor allem Jüngere kehren Gott den Rücken. Betroffen sind sowohl Protestanten, die mit 43 Prozent unter den US-Christen die Mehrheit stellen, als auch die rund 20 Prozent Katholiken im Land. Zu den beiden großen Konfessionen bekannten sich noch vor zehn Jahren 51 beziehungsweise 23 Prozent.
Die Demokraten verzichten eher auf die religiöse Rhetorik als Republikaner. Donald Trump machte es in seiner Kandidatenrede zum Thema, dass der Treueschwur auf dem Nominierungsparteitag Bidens den Bezug auf Gott fallen ließ. Umgekehrt hieß der demokratische Kandidat die Unterstützung von rund 350 Glaubensführern verschiedener Religionsgemeinschaften vergangene Woche willkommen.
Mehr Kirchenbindung bei Republikanern
Tendenziell ist die Kirchenbindung unter republikanischen Wählern stärker. So zählt der wöchentliche Kirchenbesuch noch bei 54 Prozent der Anhänger der "Grand Old Party" zu ihrem Leben, während das nur noch auf 38 Prozent der Demokraten zutrifft.
Soziale Medien statt Glaube
Einer der Gründe für den Abschied von immer mehr Amerikanern von Gott, Bibel und Glaube sind laut Inglehart die Sozialen Medien. Sie ermöglichten es den Menschen, Kontakt zu knüpfen ohne Kirche. Und: Sie verstärkten die kritische Haltung zu Kirchen, weil sie Skandale in den Reihen der Evangelikalen und Katholiken, etwa Missbrauchsskandale, in die Mitte der Gesellschaft rücken.
Inglehart sieht dennoch Chancen für ein Comeback der Religion. Die Corona-Krise habe eine neue Suche nach Sinn beflügelt. Das Bedürfnis nach Trost und Spiritualität könnte die Menschen wieder in die Kirchen bringen.