DOMRADIO.DE: Von Ihnen kommt der Satz: "Ich glaube nicht an Gott, aber ich fürchte eine gottlose Gesellschaft.“ Was heißt das?
Gregor Gysi (Bundestagsabgeordneter "DIE LINKE" und Präsident der "Europäischen Linken"): Die Kirchen sind in der Lage, allgemeine Moralvorstellungen in der Gesellschaft zu verankern. Wenn es sie nicht gäbe, würde das niemand tun. Die Linke war vor Jahrzehnten auch in der Lage, Moralvorgaben zu schaffen, gerade im sozialen Bereich. Durch das Scheitern des Staatssozialismus hat sie zwar nicht diese Fähigkeit verloren, aber sie ist nicht mehr allgemeinverbindlich. Deshalb wären wir jetzt ohne die Kirchen eine moralfreie Gesellschaft. Der Kapitalismus kann Moral in dem Sinne nicht erzeugen, weil er um eine Tatsache nicht herumkommt: Wenn der Bäckermeister A Pleite geht, geht es dem Bäckermeister B besser. Das ist moralisch schwer zu erklären.
DOMRADIO.DE: Ist die Kirche für Sie also ein notwendiges Übel?
Gysi: Nein, das sehe ich anders. Schauen wir zu Karl Marx. Es wird immer behauptet Marx habe gesagt: "Religion ist Opium für das Volk“. Das stimmt nicht. Er hat gesagt: "Religion ist Opium des Volkes“. Das ist ein gewaltiger Unterschied. "Für das Volk“ heißt es, wird von oben vorgegeben. "Des Volkes“ heißt: Die Menschen wollen das und glauben das. Alles, was Menschen glauben und benötigen, gestehe ich ihnen zu, wenn es keine anderen Menschen verletzt, was es hier nicht tut. Man hat mich mal gefragt, ob nicht alle Kirchenbauten umsonst wären, wenn es Gott nicht gäbe. Ich sage: Kirchen sind nicht für Gott gebaut worden, sondern für den Menschen.
DOMRADIO.DE: Schauen wir in die Politik. Auch da haben die Religionsgemeinschaften Einfluss, bei Themen, wie Abtreibung, Sterbehilfe oder "Ehe für alle“. Wie stehen Sie dazu?
Gysi: Ich glaube, dass sich die Politik grundsätzlich öffnen muss. Wenn wir in die USA schauen, wird das politische Establishment dort dermaßen abgelehnt, dass man dann von außen einen Trump wählt, weil Frau Clinton für die Mehrheit nicht mehr in Frage kommt. In Deutschland bewegen wir uns in die gleiche Richtung, wobei wir bei solchen Entwicklungen immer drei, vier Jahre hinterher sind. Die letzte Bundestagswahl war aber schon ein deutliches Zeichen in diese Richtung. Deshalb muss sich die Politik öffnen. Für Arbeitgeber, für Gewerkschaften und auch mit den Kirchen.
Aber sie muss auch einen Weg finden zu den Arbeitnehmern und Arbeitslosen. Wenn man diesen Weg nicht findet und so viele ausschließt, dann wird man darunter eines Tages leiden und dafür bezahlen. Insofern habe ich gar nichts gegen Gespräche mit der Kirche. Wobei der Einfluss natürlich auch rückläufig ist. Vor Jahrzehnten hätten die Kirchen noch Dinge verhindern können, die sie jetzt nicht mehr können, Abtreibungsverbot, "Ehe für alle“, auch das schwierige Thema der künstlichen Befruchtung, Pflege, Sterbehilfe. Ich weiß, welche Bedeutung die Kirche hat. Ich bin für die Trennung von Staat und Kirche, aber ich habe nichts gegen Gespräche.
DOMRADIO.DE: Trennung von Staat und Kirche fordert am anderen Ende des politischen Spektrums auch die AfD. Sind Sie da auf der gleichen Wellenlänge?
Gysi. Ich habe andere Maßstäbe. Ich bin für klare vertragliche Regelungen zwischen Staat und Kirche. Der Schadenersatz, den wir seit über 200 Jahren für die Enteignung der Kirchen zahlen, sollte langsam mal auslaufen. Da braucht es eine Vereinbarung. Zehn, 15 Jahre auslaufen und dann ist genug. Ich halte auch nichts davon, dass die Kirchensteuer vom Finanzamt eingezogen wird. Das ist mir zu nah und zu eng. Aber ich weiß natürlich auch, welche sozialen Leistungen die Kirchen in vielen Bereichen bringen, in Krankenhäusern, Heimen und anderen Einrichtungen. Das muss wiederum geregelt werden, da sollte sie auch finanziell unterstützt werden. Für solche Vereinbarungen bin ich.
DOMRADIO.DE: Papst Franziskus spricht sich dafür aus, auch auf die nicht Glaubenden zuzugehen. Wie kommt das bei Ihnen an?
Gysi: Ich finde Papst Franziskus geradezu fantastisch. Die Kardinäle haben ihn gewählt, weil die katholische Kirche in einer Krise war, und gemerkt haben: So einen Papst brauchen wir jetzt. Nun haben sie ihn gewählt und sind teils trotzdem nicht zufrieden damit und stellen ihm ein Bein. Ich habe vor kurzem ein Streitgespräch mit dem Vorsteher eines Klosters geführt, der griff den Papst in einer Art an, dass ich ihn verteidigen musste. Das ist meine neue Aufgabe geworden: Den Papst verteidigen. (lacht)
Franziskus stellt Menschheitsfragen und versucht, diese zu beantworten. Er erinnert an den Ursprung des Christentums, wo es eben auch um Gerechtigkeit ging, darum dass jeder Mensch eine Schöpfung Gottes ist, darum dass es nicht gerechtfertigt ist, wenn es dem einen viel besser geht, als dem anderen. Natürlich hat es über die Jahrtausende Abwege gegeben, aber er knüpft da heute wieder an.
DOMRADIO.DE: Wenn Sie der Religion so gut gegenüberstehen als Atheist, was können wir Katholiken uns von Ihnen, den Linken, da noch abgucken?
Gysi: Die Toleranz gegenüber anderen. Andersglaubenden und nicht Glaubenden. Das ist bei mir von Kindesbeinen an eingeprägt. Das ist etwas, dass ich mir von jeder Katholikin und jedem Katholiken wünsche. Wenn mir die polnischen Katholiken erklären, weshalb sie ein Problem mit Muslimen haben, muss ich sie an die Bergpredigt erinnern.
Das Gespräch führte Renardo Schlegelmilch.