Das sind Voraussetzungen, die – ob des einen oder anderen garantierten Überraschungseffektes – zweifelsohne vielversprechend sind. Immerhin lässt sich kaum auf ein gewachsenes Miteinander bauen, vielmehr allein auf eine zaghafte Erstbegegnung, die die "Neuentdeckung" eines altvertrauten Werkes, so die Werbung des Veranstalters, für ungeahnte Interpretationsspielräume möglich macht.
Am Karfreitag nun werden die Vertreter der Kölner Dommusik und die "Gürzenicher" unter der Leitung ihres Kapellmeisters in der Kölner Philharmonie erstmals gemeinsam die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach aufführen und eine erwartungsgemäß spannende Kostprobe davon abliefern, was es heißt, eine musikalische Allianz auf Zeit einzugehen und im spontanen Dialog miteinander die Annäherung an ein Werk zu wagen, das gerade in der Fastenzeit zu den meist gespielten überhaupt zählt.
Und das infolgedessen gerade bei Kennern mehr noch als nur andächtige höchst aufmerksame Zuhörer finden wird. Außerdem schließt Roth mit dieser Wahl wieder an eine bewährte Tradition der Philharmonie an, am Tag des Leidens und Sterbens Jesu eine der Bach-Passionen aufs Programm zu setzen, was schon für sich genommen eine jahrzehntelange Erfolgsgeschichte ist. Und nun also in eine neue Runde geht, da zudem noch zwei lokale Spitzenensembles aufeinander treffen.
Charme-Offensive
So eröffnet der Leiter des Gürzenich-Orchesters Köln, François-Xavier Roth, die erste gemeinsame Probe mit den Sängerinnen und Sängern des Vokalensembles im Probensaal des Kardinal-Höffner-Hauses auch gleich mit einer Charme-Offensive: "Ich freue mich, dass wir dieses Projekt gemeinsam machen." Und er schwärmt: "Dabei werden wir von super Solisten unterstützt." Dann widmet er sich zunächst sehr intensiv der Arbeit am Eingangschor "Herr, unser Herrscher…" und feilt immer wieder an Ausdruck, Phonetik und Dynamik.
Wiederholt lässt er den Chor den Text zunächst erst sprechen: mal forte, dann pianissimo, mal schnell, dann langsamer. Überhaupt weiß er ganz genau, wie er diese Leidensgeschichte en detail haben will: nämlich als "etwas dramaturgisch Starkes". Bindungen will er in großen Bögen, einzelne Worte mit Akzentuierungen besonders herausstellen, Phrasierungen deutlicher kenntlich machen, Absätze als solche bewusst betonen – wiederholt mahnt er, das im Text gesetzte Komma nicht zu überlesen – und zwischendurch erklärt er immer wieder nachvollziehbar, dass das dreimalige "Herr" der richtigen Mischung aus "großem Respekt, aber auch ebenso großer Liebe" bedarf und das Wort "unser" noch ein bisschen zu hart klingt.
Dabei sei es doch ein Schlüsselwort. "Wir brauchen es menschlicher, weich, aber großzügig…" Immer geht es ihm um starke Expressivität: "Nichts Dekoratives", fordert Roth, "sehr lebendig muss es klingen." Bei "Nazareth" pocht er auf die Exotik des Wortes, bei "Kreuzige ihn" fordert er mehr Autorität. Den Chor "Wir haben ein Gesetz…" lässt er der unmittelbaren Konfrontation halber in enger Aufstellungsformation singen. "Wir tun so, als wüssten wir, wie es klingen soll. Dabei muss es eine Überraschung sein, und wir sollten es so bringen, als sängen wir es zum ersten Mal", lautet sein Impuls an anderer Stelle.
Wie ein musikalisches Bibliodrama
Roth inszeniert die Passion wie ein musikalisches Bibliodrama, das sinnlich und emotional berühren soll – und das mit Leidenschaft. Nicht reduzieren, eher übertreiben entspricht daher auch seinem Interpretationsansatz, ohne das Werk zu verfälschen oder zu überfrachten. Erlebbar will er den Inhalt dieser hochempfindsamen und zugleich tief religiösen Musik machen und argumentiert: "Bach erzählt eine Geschichte. Und es ist hochinteressant, wie er sie kommentiert, wo er übertreibt. Das ist vielschichtig, und sowohl das Publikum als auch der Dirigent sollten sich auf alle Dimensionen dieser Musik einlassen. Es gibt nicht nur den einen Sinn, sondern viele unterschiedliche Zugänge."
Das Wichtigste sei, eine Komposition immer im Kontext ihrer Entstehung zu begreifen und in diesem Fall vor allem so, wie sie Bach gemeint haben mag. Mit zeitgenössischen Komponisten habe er sich oft über deren Motive auseinandergesetzt und nachfragen können, berichtet Roth über seine künstlerische Vorgehensweise beispielsweise bei Boulez oder Lachenmann. Eine Bach-Passion zu begreifen sei hingegen ein Prozess und habe viel mit einem selbst und der eigenen Identifikationsfähigkeit zu tun. Nicht nur deshalb sei Bachs Musik nach wie vor topaktuell. Und das Gürzenich-Orchester verfüge außerdem mit einer großen klanglichen Bandbreite über die entsprechenden Möglichkeiten, dieser Aktualität – wie überhaupt der Musik jeder Epoche – gerecht zu werden, so eben auch Bach, lobt er seine Musiker.
Dementsprechend behält sich der Orchesterchef für das anstehende Konzert vor, bei den Chorälen immer mal den Klangkörper zu reduzieren, beispielsweise statt des gewohnten Tutti auch nur einen Streicher spielen zu lassen. "Eine solche Praxis, in der Begleitung zu variieren, entspricht durchaus der Bach-Tradition", argumentiert er. Einem selbst gehe es doch genauso. "An einem Tag liest man den Text eines Chorals so, am nächsten Tag ganz anders. Und trotzdem behält er immer seinen Sinn."
Auch François-Xavier Roth erzählt mit seiner ersten Johannes-Passion in Köln eine Geschichte: eine zutiefst bewegende allemal, die ganz nah an den Evangelientext heranführt. Als Sohn des berühmten Pariser Kirchenmusikers Daniel Roth ist er mit geistlicher Musik aufgewachsen und betont: "Ich habe von klein an viel Bach gehört. Von daher war er für meine musikalische Erziehung grundlegend und von großer Bedeutung. Auch mit meinen Orchestern kehre ich immer wieder an diesen Ursprung zurück und bringe damit meine große Bewunderung für Bachs Meisterwerke zum Ausdruck. Mein Repertoire ist breit aufgestellt und natürlich probiere ich immer wieder gerne etwas Neues aus. Dafür bin ich bekannt. Aber die Leute denken, ich spiele nur moderne Musik. Dabei hat Bach von Anfang an dazugehört. Schließlich brauche ich Bach wie das Wasser zum Leben."
Das Konzert mit der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach, die am Karfreitag des Jahres 1724 in der Leipziger Nikolaikirche uraufgeführt wurde, beginnt am 14. April um 18 Uhr in der Philharmonie Köln. Die Solisten sind: Camilla Tilling Sopran, Isabelle Druet, Mezzosopran, Sebastian Kohlhepp, Tenor, Luc Bertin-Hugault, Bass, Topi Lehtipuu, Evangelist, Matthew Brook, Christus. Es singt das Vokalensemble Kölner Dom (Einstudierung: Eberhard Metternich). Es spielt das Gürzenich-Orchester Köln. Die Leitung hat François-Xavier Roth.
Beatrice Tomasetti