Buch über apokalyptische Krisenhermeneutik

"Haben in saturierten Gesellschaften ihren Ort"

Krisen und ihre Deutungen haben derzeit Hochkonjunktur. Doch was machen diese apokalyptischen Erzählungen mit uns? Diese Fragen versucht der Religionswissenschaftler Alexander-Kenneth Nagel in einem Buch zu beantworten.

Demonstrant mit einer Schutzkonstruktion und einem Q für "QAnon", Zeichen einer Verschwörungstheorie / © Christophe Gateau (dpa)
Demonstrant mit einer Schutzkonstruktion und einem Q für "QAnon", Zeichen einer Verschwörungstheorie / © Christophe Gateau ( dpa )

DOMRADIO.DE: Was fasziniert uns Menschen denn so sehr am Weltuntergang?

Prof. Dr. Alexander-Kenneth Nagel (Religionswissenschaftler an der Universität Göttingen): Dazu gibt es wie immer in der Soziologie unterschiedliche Stimmen. Die einen sagen, der Weltuntergang oder auch die Apokalypse als Krisenhermeneutik wird dann wichtig, wenn sich die Gesellschaft selbst in einer Krise oder in einem Umbruchszustand befindet. In diesem Fall wäre die Apokalypse Antwort auf die Krise der Gesellschaft.

Man könnte dem aber auch entgegenhalten, dass die Apokalypse auf einen Zustand der Saturiertheit antwortet. Also dann, wenn es besonders langweilig ist, wenn Friede und Sicherheit uns sozusagen fest im Griff haben und wir Angst vor dem Statusverlust haben, dass dann die Erzählung vom Weltuntergang attraktiv wird.

DOMRADIO.DE: Haben apokalyptische Erzählungen denn auch irgendwie eine Funktion für unsere Gesellschaft?

Nagel: Ja, wie gerade schon gesagt, in diesem ersten Fall, das ist so die soziologische Deutung, wäre das so, dass apokalyptische Erzählungen Orientierung stiften können.

Es gibt die Idee, dass moderne Gesellschaften ja immer differenzierter und immer unübersichtlicher werden und die Apokalypse sozusagen die Zentralperspektive zurückbringt, indem sie die Unübersichtlichkeit in ein schlichtes und einfaches Entweder-oder transformiert.

DOMRADIO.DE: Reden wir als moderne Gesellschaft zu viel oder zu wenig vom Weltuntergang bzw. der Apokalypse? Was meinen Sie?

Nagel: Ich würde sagen, gemessen an der formalen Sicherheit, die wir zumindest hier in den Industrieländern genießen, reden wir erstaunlich viel vom Weltuntergang. Und deswegen meine ich auch gerade, dass die Deutung mit der Krise vielleicht nicht die einzige ist, sondern man müsste in Betracht ziehen, dass solche apokalyptische Erzählungen auch gerade in saturierten Gesellschaften ihren Ort haben, um sich sozusagen aus dem Alltag, aus der Mittelmäßigkeit des Alltags heraus zu imaginieren und zurück zum Existenziellen zu kommen.

DOMRADIO.DE: Jetzt heißt Ihr Buch ja im Titel "Corona und andere Weltuntergänge". Wie haben Sie sich denn der Krise und der Pandemie angenähert? Auf eine andere Art und Weise, als es vielleicht jeder andere Mensch machen würde?

Nagel: Für mich war jetzt die Corona-Pandemie eher nochmal die Chance, das Buch zu Ende zu schreiben. Corona ist nur eines von mehreren Fallbeispielen, an denen ich versuche, apokalyptische Krisenhermeneutik nachzuzeichnen.

Die anderen beiden sind die ökologische Krise bzw. der Klimawandel und die Krise des Nationalstaats mit Blick auf die Neue Rechte und den Mythos vom großen Austausch. Deswegen war das ein klein bisschen opportunistisch, vielleicht auch Corona da so stark zu machen. Aber ich habe auch ein Kapitel in dem Buch drin, wo es jetzt dezidiert um die apokalyptische Hermeneutik der Corona-Krise geht.

DOMRADIO.DE: Gibt es auch einen Zusammenhang zwischen dem Weltuntergangsdenken und Verschwörungsdenken?

Nagel: Den gibt es auf jeden Fall. Ich glaube, es wäre zu einfach zu sagen, dass jede Apokalypse auch sozusagen konspirativ ist oder jede Verschwörungstheorie auch apokalyptisch. Aber es gibt auf jeden Fall Schnittmengen.

Und ich denke, bei Corona hat man das gesehen. Zum Beispiel im Zusammenhang mit der QAnon-Bewegung, die Corona dann in ihre allgemeine Verschwörungstheorie als einen Meilenstein eingebaut hat: "Leute, guckt mal, der Fall der Neuen Weltordnung steht kurz bevor. Corona ist sozusagen die letzte große Krise. Und dann ist es geschafft."

Das Interview führte Michelle Olion.

Buchtipp: Alexander-Kenneth Nagel, Corona und andere Weltuntergänge - Apokalyptische Krisenhermeneutik in der modernen Gesellschaft, transcript-Verag 2021, 212 Seiten, 30,00 €.


Verschwörungsmythen wie "Qanon" in den USA / © Matt Rourke (dpa)
Verschwörungsmythen wie "Qanon" in den USA / © Matt Rourke ( dpa )
Quelle:
DR
Mehr zum Thema