Vor 200 Jahren gründeten 65 jüdische Hausväter in einer feierlichen Prozedur den Hamburger Tempelverein. Sie seien "von dem Wunsche beseelt, den fast erkalteten Sinn für die ehrwürdige Religion der Väter zu beleben", heißt es in der Urkunde vom 11. Dezember 1817. Der Tempelverein gilt als Wurzel des Liberalen Judentums, zu dem sich heute etwa 1,7 der weltweit 14 Millionen Juden zugehörig fühlen. Besonders in den USA ist es weit verbreitet. In Hamburg wird das Jubiläum vom 8. bis 11. Dezember mit Vorträgen, Konzert und Gottesdienst gefeiert. Bürgermeister Olaf Scholz (SPD) lädt zum Senatsempfang ins Rathaus.
Ethisches Handeln im Fokus
Wesentliche Merkmale des Liberalen Judentums sind die Gleichberechtigung der Frauen, Predigten in deutscher Sprache und der Einsatz von Musikinstrumenten. Statt auf die strenge Befolgung der Gebote wird mehr Wert auf ethisches Handeln und den Dialog mit der nichtjüdischen Gesellschaft gelegt. Die Anhänger waren in Hamburg vor allem Mitglieder der bürgerlichen Oberschicht. Die Gründer des Tempelvereins hofften auf eine Wiederbelebung des Judentums. Statt von einer Synagoge sprachen sie von ihrem "Tempel".
Frühe jüdische Reformbestrebungen gab es bereits in Westfalen, Seesen und Berlin. Hamburg ist nach Einschätzung von Andreas Brämer, Vize-Direktor des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, allerdings der Ort, wo das Liberale Judentum "Wurzeln schlägt". Der erste Konflikt mit der jüdischen Einheitsgemeinde entzündete sich an dem neuen Gebet- und Gesangbuch: Weil viele der Gründerväter sich in Hamburg heimisch fühlten, beteten sie nicht mehr für eine Rückkehr nach Palästina.
Historische Entwicklung des Vereins
1818 mietete der Tempelverein ein Hinterhof-Lokal in der Neustadt (Alter Steinweg). Es gab eine Orgel zur Chor-Begleitung, und es fehlte der Sichtschutz zwischen Frauen und Männern. Die Geistlichen trugen ein Ornat, das dem Talar der lutherischen Pastoren ähnelte. Die ersten Jahre waren davon geprägt, ein eigenes Profil zu entwickeln, ohne dass es zum Bruch mit der Einheitsgemeinde kam. Der Tempel fand 1843 auch Eingang in Heinrich Heines "Wintermärchen": "Die Juden teilen sich wieder ein/ In zwei verschiedne Parteien;/ Die Alten gehen in die Synagog,/ Und in den Tempel die Neuen."
1844 wurde ein neuer Tempel in der Neustadt (Poolstraße) für 350 Männer und 290 Frauen eröffnet. Die dreischiffige Basilika stand in einem Hinterhof. Sie wurde 1944 durch Bomben zerstört, einige Ruinenstücke sind aber noch erhalten.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entspannte sich das Verhältnis zur Jüdischen Einheitsgemeinde. Auch Orthodoxe öffneten sich zunehmend der europäischen Kultur und nutzten die Emanzipation der Juden. Ende der 1920er Jahre erlebte der Tempelverein eine ungeahnte Blüte. Der zunehmende Antisemitismus führte offenbar dazu, dass sich viele Juden auf ihre geistlichen Wurzeln besannen. 1931 wurde im Stadtteil Rotherbaum (Oberstraße) ein neuer Tempel mit 1.200 Plätzen gebaut.
Mit Hitlers Machtergreifung 1933 begann die systematische Ausgrenzung der Juden. Während der Reichspogromnacht 1938 wurde der Tempel in der Oberstraße verwüstet und später von der Stadt beschlagnahmt. Nach dem Krieg kaufte 1953 der NWDR, Vorläufer des NDR, das Gebäude. Heute befindet sich hier das Rolf-Liebermann-Studio des NDR. Vor dem Gebäude erinnert ein Mahnmal an den einstigen Tempel.
200 Jahre feiern
Zu den Feierlichkeiten, die die Union Progressiver Juden gemeinsam mit dem Institut für die Geschichte der deutschen Juden und dem Abraham-Geiger-Kolleg veranstaltet, werden rund 100 Gäste erwartet. Neben der Tagung und dem Senatsempfang wird im ehemaligen Tempel Oberstraße, dem heutigen NDR-Studio, ein Kantorenkonzert zu hören sein.
In der Nachkriegszeit sammelten sich die wenigen Hamburger Juden in der Einheitsgemeinde. Eine liberale Gemeinde wurde erst wieder 2004 gegründet. Ihr Kulturhaus für regelmäßige Gottesdienste befindet sich in der ehemaligen Israelitischen Töchterschule im Karolinen-Viertel. Die Gemeinde zählt nach eigenen Angaben mehr als 300 Mitglieder, von denen der Großteil aus der ehemaligen Sowjetunion stammt.
Spannungsgeladenes Gemeindeleben
Doch wie schon in der Gründungszeit des Tempelvereins ist das Gemeindeleben nicht spannungsfrei. Die Jüdische Einheitsgemeinde habe vor einem Jahr einen liberalen Bet-Kreis ins Leben gerufen, der die angestammte Gemeinde im Kulturhaus zum Teil verdränge, sagt Vorstandsmitglied Wolfgang Georgy. Die Liberale Gemeinde will das 200-jährige Bestehen noch einmal eigens im kommenden Jahr feiern.
Thomas Morell