Hilfswerk missio zur Situation in Nigeria

Traumatisierten helfen, Dialog fördern

In Nigeria sind mehrere Entführungsopfer freigekommen, darunter wohl auch zwei der 2014 verschleppten Schülerinnen. Bettina Tiburzy vom katholischen Hilfswerk missio spricht von einem guten Zeichen. Wichtig sei, traumatisierten Befreiten zu helfen.

Sonntagsmesse in Maiduguri (Nigeria)  / © Friedrich Stark (epd)
Sonntagsmesse in Maiduguri (Nigeria) / © Friedrich Stark ( epd )

domradio.de: In letzter Zeit sind immer wieder Frauen und Mädchen aus der Geiselhaft der Islamisten von Boko Haram befreit worden. Jetzt wohl auch zwei Schülerinnen, die vor gut zwei Jahren in Chibok entführt wurden. Das ist erstmal ein gutes Zeichen, oder?

Bettina Tiburzy (Nigeria-Referentin beim katholischen Hilfswerk missio): Auf jeden Fall! Wenn entführte Mädchen befreit werden, ist das immer ein gutes Zeichen - auch politisch gesehen. Denn der Regierung ist immer wieder vorgeworfen worden, dass sie innerhalb dieser zwei Jahre die Mädchen nicht befreien konnte. Das ist natürlich auch ein Sinnbild für das Versagen des Staates. Deshalb ist es ein wichtiges Zeichen. Aber natürlich sind viele, viele Mädchen immer noch in den Händen der Entführer.

domradio.de: Wie schätzen Sie das ein: Sind diese Befreiungsaktionen der Armee eher eine Art Tropfen auf den heißen Stein oder stehen sie womöglich für einen Durchbruch im Kampf des Staates gegen den Terror?

Tiburzy: Ich würde sagen, es gibt da eine Entwicklung. Boko Haram war lange auf dem Vormarsch. Die Terrorgruppe konnte sogar ein Kalifat errichten - ähnlich wie der IS - hat sich auch darauf berufen, hat ganze Regionen besetzt. Und die Armee und die Regierung schienen machtlos und auch willenlos.

Aber seit in Nigeria vor einem Jahr Präsident Buhari an der Macht ist, hat sich sehr viel geändert. Buhari hat mit den Nachbarstaaten Abkommen geschlossen. Die Staaten haben gemeinsam die Terroristen bekämpft und Boko Haram musste sich zurückziehen. Das heißt aber nicht, dass die Gruppe nicht mehr terroristisch handelt.

Sie verübt immer noch Anschläge. Aber es wird Druck ausgeübt und deshalb sind auch Geiseln befreit worden. Unsere Projektpartner in Nigeria haben uns davon berichtet, dass sie zuversichtlich sind und das Gefühl haben, dass sich endlich - nach Jahren des Terrors - etwas bewegt.

domradio.de: Das heißt die Milizen von Boko Haram sind geschwächt?

Tiburzy: Sie sind geschwächt. Sie können der Armee nicht mehr im offenen Kampf begegnen. Aber sie verüben trotzdem Anschläge und haben dazu neue Taktiken entwickelt: Sie nutzen zum Beispiel entführte Mädchen für Anschläge. Denen hängen sie Bombengürtel um oder deponieren Bomben in Kochtöpfen und schicken die Mädchen auf Märkte. Sie haben sogar zwei Mädchen in ein Flüchtingslager geschickt, wo sie sich in die Luft gesprengt haben. Boko Haram verbreitet also immer noch Angst und Terror, aber die Gruppe kann die Regionen, die sie bis jetzt besetzt hat, nicht mehr wirklich halten. Das ist ein großer Fortschritt.

domradio.de: Schauen wir mal auf die befreiten Mädchen und Frauen. Sie haben wirklich Schreckliches erlebt, sind schwer traumatisiert. Wie versucht die katholische Kirche in Nigeria, ihnen zu helfen?

Tiburzy: Wir haben besonders die beiden Bistümer im Norden unterstützt, die mit Boko Haram mit mit diesen riesigen Flüchtlingsströmen zu tun haben. Wir haben dafür gesorgt, dass die Kirche dort Füchtlinge versorgen kann. Wir haben auch ein Traumaprogramm, weil die entführten Mädchen, wenn sie wiederkehren, vor große Probleme gestellt sind.

Man könnte ja denken: Jetzt ist alles gut, sie sind befreit. Aber wir wissen von unseren Projektpartnern in Nigeria und einem befreundeten Fotografen, der mit befreiten Mädchen gesprochen hat: Diese Mädchen werden teilweise in ihrem Dorf nicht akzeptiert. Die Leute sind misstrauisch, haben Angst vor den Mädchen. Viele Mädchen haben Kinder bekommen von den Islamisten. Sie haben furchtbare Dinge miterlebt; wie ihre Familien umgebracht wurden, haben Gewalt von den Islamisten erfahren, sind geschwängert worden und sind in einer ganz, ganz schwierigen Situation. Da braucht es Menschen, die den Mädchen und auch den betroffenen Familien helfen. Diese Leute bilden wir auch mit aus. 

domradio.de: Warum ist denn speziell diese Arbeit mit den Traumaopfern so wichtig, gerade auch für die Zukunft des Landes?

Tiburzy: Vor allem der Norden Nigerias hat eine sehr dramatische Entwicklung mitgemacht. Es sind 2,4 Millionen Menschen in Nigeria auf der Flucht. Viele von ihnen sind Kinder. Und es sind ja nicht nur diese 270 Mädchen aus Chibok entführt worden, sondern es sind vorher Hunderte entführt worden und auch nachher. Und die Kinder, die jetzt geboren werden, müssen ja auch eine Zukunft haben in diesem Land.

Nigeria ist eines der wichtigsten Länder in Afrika, mit der größten Bevölkerung. Nigeria muss ein stabiles Land sein, weil ansonsten die ganze Region durch den islamistischen Terror ins Wanken kommt. Es ist wichtig, dass es in den Gebieten, wo Boko Haram wütet, endlich wieder eine positive Entwicklung gibt, ein friedliches Zusammenleben der Religionen und der Ethnien. Das ist unser Anliegen!

domradio.de: Ist das der rote Faden bei der Projektarbeit?

Tiburzy: Ja, wir haben die betroffene Region - die Bistümer Maiduguri und Yola - in den letzten zwei Jahren mit circa 600.000 Euro unterstützt. Da geht es vor allem um das friedliche Zusammenleben der Menschen. Es ist auch nicht unbedingt ein religiöser Konflikt, der da herrscht, denn auch sehr viele Muslime sind Opfer von Boko Haram. Deshalb muss der Dialog zwischen den Religionen gestärkt werden.

Es ist wichtig, dass es in den Regionen eine positive Entwicklung gibt - für die Menschen, die vom Terror gezeichnet sind, die fliehen mussten, die immer wieder Angst um ihr Leben haben. Das wollen wir mit unseren Projektpartnern vor Ort fördern und sind sehr zuversichtlich, weil die Kirche in der Bevölkerung ein sehr großes Renomee hat.

Das Interview führte Hilde Regeniter.


Quelle:
DR