domradio.de: Was ist denn Ihrer Studie gemäß das größte Problem in Deutschland, wenn Sie an Betreuung von Flüchtlingen denken, die minderjährig sind?
Katharina Gerarts (Forschungsleiterin der Studie "Angekommen in Deutschland - wenn geflüchtete Kinder erzähen"): Das größte Problem ist im Grunde, dass die Kinder hier ankommen und sich natürlich erstmal zurechtfinden müssen. Wenn Sie zunächst in den Erstaufnahme-Einrichtungen sind, besteht oft die Gefahr, dass die Kinder nicht direkt hier in die Gesellschaft hineinkommen. Statt dessen sind sie erstmal isoliert. Sie werden im Grunde hin- und hergeschoben - von einer Einrichtung zur nächsten. Aber das Wichtigste aus unserer Sicht ist eigentlich, dass die Kinder hier wirklich vom ersten Tag an und egal, wo sie herkommen, ankommen können, ein Gefühl dafür bekommen, wie es ist, hier in Deutschland zu leben. Ich denke, dass ist wirklich das zentralste Anliegen der Kinder, die hier neu ankommen.
domradio.de: Wie kann das besser als bislang funktionieren?
Gerarts: Wir haben natürlich unser hervorragendes Bildungssystem in Deutschland. Es ist ganz wichtig, dass Kinder von Anfang an hier integriert werden. Das betrifft sowohl die Schule als auch den Kindergarten und den vorschulischen Bereich. In der Schule funktioniert es meistens schon ganz gut, wobei auch hier teilweise einige Monate ins Land gehen, ehe die Kinder in die Beschulung kommen. In den Kindergärten ist es eigentlich noch weniger der Fall, dass die Kinder auch wirklich schon integriert werden und dort die entsprechenden Bildungsangebote bekommen.
domradio.de: Das Tempo - hört man bei Ihnen raus - muss gesteigert werden. Welche Rolle spielt es denn, dass es da nicht nur um Kinder und Jugendliche geht, die entwurzelt sind, sondern, dass sie teilweise auch massiv traumatisiert hier in Deutschland ankommen?
Gerarts: Da sprechen Sie einen ganz wichtigen Punkt an: Diese Traumatisierungen sind zum einen bei den Kindern selber vorhanden, aber eben oft auch bei den Eltern. Und genau das ist ja das Problem, das wir versucht haben, mit unserer Studie in den Blick zu nehmen. Denn oft werden die Kinder, die begleitet sind, unter ihre Familien subsummiert. Sie werden gar nicht mit ihren spezifischen Bedürfnissen in den Blick genommen, weil man denkt: 'Ach, die Eltern sind ja dabei. Das wird schon ausreichen, und die Erwachsenen können sich kümmern.' Aber wir stellen eben fest, dass das oft nicht der Fall ist. Es hängt natürlich auch sehr davon ab, wo die Kinder herkommen. Man kann nicht generell sagen, dass alle Kinder eine Traumatisierung durchlebt haben, aber doch sehr viele. Und dann ist es auch ganz wichtig, von vornherein zu schauen, dass diese seelischen Wunden einen Heilungsprozess erfahren und die Kinder sehr schnell Zugang finden zu psychotherapeutischer Beratung oder Ähnlichem. Das gilt für die Kinder, aber eben auch für die Eltern. Denn sonst besteht oft die Gefahr, dass die Kinder überfordert werden, dass die Kinder auch in Situationen hineingezogen werden, wo sie eigentlich Erwachsenenrollen übernehmen müssen.
domradio.de: Psychotherapeutische Beratung haben Sie angesprochen. Was fordern Sie jetzt als Essenz Ihrer Studie von der deutschen Politik?
Gerarts: Aus Kindersicht sind es im Grunde einige wesentliche Punkte: Der erste ist, dass wir festgestellt haben: Wir müssen das Wohl der Kinder wirklich in allen Entscheidungen, die getroffen werden, ganz zu oberst stellen. Das sagt auch die UN-Kinderrechtskonvention, die Deutschland schon vor einigen Jahren ratifiziert hat. Das Wohl des Kindes ist an erster Stelle zu betrachten. Das fehlt uns noch immer in einigen Bereichen. Der zweite Punkt ist, dass wir feststellen, dass natürlich die Beziehungen für die Kinder sehr wesentlich sind. Die Familie ist einfach der wichtigste Ort, wo Vertrauen gefunden wird, wo die Kinder zur Ruhe kommen können. Es ist für die Kinder unhaltbar, wenn einzelne Elternteile nicht bei Ihnen sind. Deswegen fordern wir ganz eindeutig, dass der Familiennachzug geregelt werden muss, damit Familien miteinander hier auch leben können. Außerdem müssen wir uns als Forscher an die eigene Nase packen und sagen: 'Wir müssen mehr Forschung betreiben. Wir müssen schauen, wie es den Kindern geht.' Das, was wir gemacht haben, ist eine kleine Pionierstudie - ein Anfang, sozusagen. Jetzt müssen wir im größeren Rahmen denken und schauen, dass wir diese Themen nochmal stärker in die Wissenschaft hereinholen.
Das Interview führte Daniel Hauser.