Angesichts stark steigender Infektionszahlen mehren sich Forderungen nach einer allgemeinen Corona-Impfpflicht in Deutschland. Dafür sprachen sich unter anderen am Montagabend der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), der nordrhein-westfälische Vize-Regierungschef Joachim Stamp (FDP) sowie die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, aus. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) äußerte sich hingegen weiterhin skeptisch.
Dabei gehe es nicht nur eine juristische Frage, sagte Spahn am Dienstag im Deutschlandfunk. Es gehe um das Verhältnis der Bürger zum Staat, um Freiheit und Verantwortung. Zwar gebe es eine moralische Pflicht, sich impfen zu lassen. Es gelte aber zu bedenken, was es für die Freiheit bedeute, wenn der Staat das Impfen für alle anordne, sagte der geschäftsführende Minister.
"Jetzt drängt die Zeit"
Kretschmann sagte am Montagabend dem ZDF-"heute journal": "Am schnellsten sichern wir unsere Freiheit, wenn sich die nötige Anzahl an Menschen impfen lässt." Mit zu niedrigen Impfquoten lasse sich die Pandemie nirgendwo auf der Welt richtig in den Griff bekommen.
Stamp erklärte in der ARD-Sendung "Hart aber fair", eine Impfpflicht wäre zwar ein massiver Grundrechtseingriff. Er habe aber große Skepsis, wie man anders aus der Spirale der Pandemie herauskommen könne, sagte der nordrhein-westfälische Integrationsminister.
Kurschus plädierte in der Talkshow richtiggehend ungeduldig für eine Impfpflicht. "Jetzt drängt die Zeit", sagte die Theologin: "Wir sind in einer Situation, wo jeden Tag dieses ganze Hin und Her Menschenleben kostet." Es müsse jetzt gesagt werden: "Impft euch!"
"Verpflichtung aus Gerechtigkeit, Solidarität und Nächstenliebe"
Die Deutsche Bischofskonferenz hatte zuvor von einer "moralischen Impfpflicht" gesprochen. "Impfen ist in dieser Pandemie eine Verpflichtung aus Gerechtigkeit, Solidarität und Nächstenliebe. Aus ethischer Sicht ist es eine moralische Pflicht", heißt es in einer von der Bischofskonferenz am Montag in Bonn verbreiteten Mitteilung. Die Impfung sei das wirksamste Mittel, sich selbst und andere zu schützen. Zugleich forderten die Bischöfe, die nötigen Hygienemaßnahmen einzuhalten.
Der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers sprach sich unterdessen in einem Interview der "Dresdner Neuesten Nachrichten" für eine Impfpflicht aus. "Ich sehe, dass der Staat im Moment noch mit dem milden Mittel der Überzeugung versucht, die Verantwortung beim Einzelnen zu belassen. Ich halte es ethisch aber vertretbar, eine Impfpflicht einzuführen", so Timmerevers.
"Impfpflicht kann Lage schlagartig ändern"
Der Saarbrücker Pharmazie-Professor Thorsten Lehr sagte, ab dem kommenden Frühjahr werde kein Weg daran vorbeiführen, eine Impfpflicht einzuführen, sie könne die Lage "schlagartig" ändern. "Das Ende der Pandemie liegt mit der Impfpflicht in unseren Händen", erklärte er in "RTL Direkt".
Der Berliner Staats- und Verfassungsrechtler Ulrich Battis bezeichnete eine allgemeine Corona-Impfpflicht als geboten und rechtlich durchsetzbar. Die Verfassung sei eindeutig, sagte der Professor der Berliner Humboldt-Universität der "Neuen Osnabrücker Zeitung" (Dienstag).
"Selbstbestimmungsrecht muss zurückstehen"
Der Sozialethiker Andreas Lob-Hüdepohl erklärte, angesichts "extremen, manchmal sogar tödlichen Unterversorgungen anderer schwerer Erkrankungen" müsse das Selbstbestimmungsrecht zurückstehen. Die steigenden Infektionszahlen machten eine Impfpflicht kaum umgänglich, sagte das Mitglied des Deutschen Ethikrats der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Dass das Versprechen politischer Entscheidungsträger, es werde keine Impfpflicht geben, nun möglicherweise gebrochen wird, führte er auch auf die "unabsehbare Dynamik dieser Pandemie" zurück. "Wenn sich Sachverhalte gravierend ändern, dann ändern sich möglicherweise auch die ethischen und politischen Konsequenzen."
Der Jurist Steffen Augsberg, ebenfalls Mitglied im Deutschen Ethikrat, fordert vor der Einführung einer allgemeinen Corona-Impfpflicht, andere Maßnahmen genau zu prüfen.
Bei einer Impfpflicht und dem damit verbundenen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit müsse die Verhältnismäßigkeit gewahrt sein, "und das setzt unter anderem voraus, dass es nicht weniger eingreifende, ebenso effektive Mittel gibt", sagte der Professor für Öffentliches Recht an der Uni Gießen im WDR5-"Morgenecho".
"Wir haben lange genug diskutiert"
Der Bochumer Staatsrechtler Stefan Huster hält eine Pflicht zur Impfung gegen das Coronavirus für verhältnismäßig. "Wir haben lange genug über die Notwendigkeit einer Corona-Impfung diskutiert, doch die Impfquote steigt kaum an", sagte der Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie der Essener "Westdeutschen Allgemeinen Zeitung" (WAZ, Dienstag).
Gutes Zureden helfe nicht mehr. Zugleich betonte er, dass eine Impfpflicht kein Impfzwang sei, denn niemand würde von der Polizei abgeholt, müsse aber strikte Kontaktbeschränkungen einhalten.
Neben einer berufs- oder einrichtungsbezogenen Impfpflicht für Bereiche mit besonders gefährdeten Personen wird inzwischen auch eine allgemeine Pflicht zur Impfung gegen Covid-19 diskutiert. Für Letztere plädierten bei "Hart aber fair" auch CSU-Generalsekretär Markus Blume und der Darmstädter Arzt Cihan Celik. Über eine mögliche Impfpflicht muss der Bundestag entscheiden. In der möglichen Koalition aus SPD, Grünen und FDP wird das Thema noch diskutiert.
Impfquote aktuell bei 68 Prozent
Aktuell sind laut Daten des Robert Koch-Instituts (RKI) insgesamt 68 Prozent der Bevölkerung in Deutschland vollständig gegen Covid-19 geimpft, 70,5 Prozent mindestens einmal. Die geringe Impfquote gilt als ein Grund für das Ausmaß der vierten Welle der Pandemie.
Am Dienstagmorgen meldete das RKI 45.326 bestätigte Neuinfektionen. Die Zahl der neuen Infektionen pro 100.000 Einwohne binnen sieben Tagen stieg auf einen neuen Rekordwert von 399,8. Die Zahl der bisherigen Corona-Toten liegt bei 99.433. Die Hospitalisierungsrate beträgt bundesweit derzeit 5,3.