Vor der Erabeitung des ersten systematischen Gesetzbuchs, des Codex Iuris Canonici (CIC) 1917, habe es eine "ungeheure Vielfalt der Lösungsmöglichkeiten" gegeben, schreibt der Münsteraner Wissenschaftler in einem Gastbeitrag für die "Zeit"-Beilage "Christ & Welt".
Bis 1917 galt eine Gesetzessammlung des Kirchenrechts (Corpus Iuris Canonici), die "neben Naturrecht, Heiliger Schrift und Tradition der Kirche auch die ökumenischen Konzilien, die Päpste und die kurialen Behörden, das Gewohnheitsrecht und schließlich die Bischöfe und die Partikularsynoden" umfasste.
Dem stehe heute allein das Gesetzbuch "und seine authentische Auslegung durch den obersten Gesetzgeber" gegenüber, so Wolf. Früher hätten Seelsorger und kirchliche Richter viel Spielraum gehabt "für eine Entscheidung, die dem Einzelfall gerecht" werden konnte.
"Kirchenrecht hat für den Menschen da zu sein"
Der Gesetzessammlung sei es nicht "um eine Rechtsdogmatik und eine allgemeingültige, letztverbindliche Normsetzung bis ins kleinste Detail" gegangen, betont der Historiker. Er verweist etwa auf das Decretum Gratiani aus der Mitte des 12. Jahrhunderts: Dessen "kasuistischer Ansatz steht für eine Vielfalt und Vielgestaltigkeit, gestützt auf Einzelfallentscheidungen, zeitlich durch Antike und Mittelalter, räumlich durch die ganze christliche Welt, die das Adjektiv 'katholisch' im Sinne von 'umfassend, das Ganze im Blick habend' wirklich verdient. Es zeigt eine einmalige Anpassungsfähigkeit und Dynamik kirchlicher Rechtspraxis."
Wenn dem Codex heute wiederum das Corpus als Interpretationshilfe zur Seite gestellt würde, "wären Einzellfallentscheidungen und pastorale Lösungen, wie Papst Franziskus sie anstrebt, wieder leichter möglich", erklärt Wolf. Auch im weltlichen Recht gebe es eine Tendenz "weg von der Kodifizierung". Und: "Das Kirchenrecht hat für den Menschen da zu sein, nicht der Mensch für unbarmherziges Gesetzesrecht."