Historikerin über das Massaker in Oradour-sur-Glane

"Wir haben bis heute eine Leerstelle"

Vor 75 Jahren ermordeten Angehörige einer SS-Panzer-Division fast alle Bewohner der Gemeinde Oradour-sur-Glane. Die Aufarbeitung des Massakers ist von Widersprüchen gesprägt. Wie gehen Deutschland und Frankreich damit um?

Gedenktafel für die Opfer des Massakers von Oradour-sur-Glane / © Alexander Brüggemann (KNA)
Gedenktafel für die Opfer des Massakers von Oradour-sur-Glane / © Alexander Brüggemann ( KNA )

Vor 75 Jahren, am 10. Juni 1944, ermordeten Angehörige der SS-Panzer-Division "Das Reich" 642 Bewohner von Oradour-sur-Glane, unter ihnen 245 Frauen und 207 Kinder. Anschließend legten sie das französische Dorf in Schutt und Asche.

Die Karlsruher Historikerin Andrea Erkenbrecher beschäftigt sich seit Jahren mit dem Massaker und berät unter anderem die nordrhein-westfälische Zentralstelle für die Bearbeitung von nationalsozialistischen Massenverbrechen bei ihren nach wie vor laufenden Ermittlungen.

KNA: Frau Erkenbrecher, am 10. Juni 1944 metzelten Angehörige der SS-Panzerdivision "Das Reich" in Oradour-sur-Glane die männlichen Einwohner nieder und trieben die Frauen und Kinder in die Kirche des Dorfes, um sie dort umzubringen. Wie kam es zu diesem Gewalt-Exzess?

Andrea Erkenbrecher (Historikerin): Wir wissen zwar sehr genau, was vor Ort geschah, haben aber bei dieser Frage bis heute eine Leerstelle: Wir wissen schlicht nicht, wer das Massaker befohlen hat.

KNA: Aber der Kontext ist bekannt.

Erkenbrecher: Ja, das Massaker lässt sich im Umfeld der seit Frühjahr 1944 laufenden Partisanenbekämpfung verorten. Diese zielte auch darauf, über den Terror gegen die Zivilbevölkerung den bewaffneten Widerstand, den Maquis, zu treffen. In dem Sinne ist Oradour nichts Neues. Neu allerdings ist das Ausmaß der Gewalt.

KNA: Welche Erklärungen gibt es dafür?

Erkenbrecher: Im Wesentlichen sind es zwei Lesarten. Die eine besagt, dass sich mit der Landung der Alliierten in der Normandie im Juni 1944 der Kampf gegen den Maquis, der inzwischen ganze Landstriche kontrollierte, massiv verschärfte. Die SS-Panzerdivision "Das Reich" war damit beauftragt worden, den Widerstand im Raum Limoges zu brechen, und wollte – so die erste These – mit dem Massaker ein Exempel zu statuieren. Ähnlich war man bereits an der Ostfront vorgegangen, und viele SS-Männer auf der Kommando-Ebene waren dort eingesetzt gewesen.

KNA: Die zweite Lesart?

Erkenbrecher: Geht von einem Alleingang des Bataillonschefs, Sturmbannführer Adolf Diekmann, aus. Das ist bis heute ein Streitpunkt, auch wenn das Gros der Historiker zur ersten Erklärung tendiert. Aber: Diekmann ist kurz nach dem Massaker gefallen. Alles, was wir über ihn wissen, wissen wir aus zweiter Hand.

KNA: Haben die überlebenden Täter diesen Umstand für sich genutzt?

Erkenbrecher: Die Ebene über ihm, also die Kommandeure in Regiment und in der Division, waren alle nicht vor Ort, behaupteten aber sehr bald schon unisono: "Das hat der Diekmann selber und befehlswidrig entschieden." Diekmann hingegen soll sich gegenüber dem Kompanieführer auf einen Regimentsbefehl bezogen haben.

KNA: Wozu dieses Schwarze-Peter-Spiel?

Erkenbrecher: Um sich selbst und die Waffen-SS zu exkulpieren. Schon kurz nach dem Massaker war Oradour international bekannt und wurde spätestens beim Nürnberger Prozess ein Symbol für die Kriegsverbrechen der Waffen-SS. Den Offizieren ging es um das Bild der Einheit und die drohende strafrechtliche Verfolgung.

KNA: Wie ging es nach dem Krieg weiter?

Erkenbrecher: Auf deutscher Seite stellt man schon sehr früh, noch in den 40er-Jahren, fest: "Das ist ein Schandmal, das uns begleiten wird." Immer wieder schiebt sich in den Folgejahren das Thema an die Oberfläche der Tagespolitik. Zum Beispiel fragen Abgeordnete im französischen Parlament regelmäßig: "Was ist eigentlich mit Lammerding, warum wird der in Deutschland nicht verfolgt, können wir ihn ausliefern lassen?"

KNA: Heinz Lammerding war der Divisions-Kommandeur...

Erkenbrecher: ...der in Frankreich wegen des Massakers in Tulle in Abwesenheit zum Tode verurteilt wurde. Das Grundgesetz der Bundesrepublik verbot seine Auslieferung, Lammerding machte Karriere als Bauunternehmer in Düsseldorf. In der Bundesrepublik wurde wegen Oradour gegen ihn ermittelt, das Verfahren aber mangels Beweisen eingestellt. Er starb 1971, kurz bevor die deutsche Justiz auch wegen Tulle hätte ein Verfahren eröffnen können.

KNA: Mit Joachim Gauck besuchte 2013 erst sehr spät ein deutscher Bundespräsident Oradour-sur-Glane – warum?

Erkenbrecher: Das erscheint nur im ersten Moment seltsam. Die deutsch-französische Versöhnungspolitik knüpfte zunächst vor allem an Orte und Ereignisse aus dem Ersten Weltkrieg an, zum Beispiel Verdun und Reims. Der Zweiten Weltkrieg schien den Politikern dagegen lange als emotional zu aufgeladen. Oradour bildet keine Ausnahme, auch Drancy, von wo aus die in Frankreich lebenden Juden deportiert wurden, oder Tulle, wo die SS einen Tag vor Oradour mordete, gehören dazu. Das änderte sich spätestens 2004 mit dem Gedenken an die Invasion der Alliierten in der Normandie, zu dem auch der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder eingeladen wurde.

KNA: Was bedeutete das für die Erinnerung an Oradour?

Erkenbrecher: Das Auswärtige Amt begann jetzt darüber nachzudenken, dass man auch ein Zeichen in Oradour setzen könnte. Dazu nahm man die Position der Überlebenden verstärkt in den Blick, und merkte, dass es gegen einen hochrangigen Besuch aus Deutschland immer noch Widerstände gab. Außerdem spielte die innerfranzösische Oradour-Problematik eine wichtige Rolle.

KNA: Wie meinen Sie das?

Erkenbrecher: Als einigen Tätern 1953 in Bordeaux der Prozess gemacht wurde, saßen auch 14 französische Männer auf der Anklagebank. Es handelte sich um Elsässer, die zuallermeist zur Waffen-SS zwangsrekrutiert worden waren. Am Ende stand ein Urteil auch gegen diese französischen Angeklagten. Und das wiederum löste eine veritable Staatskrise aus, weil im Elsass daraufhin ein großer Proteststurm losbrach. Schließlich amnestierte man die französischen Zwangseingezogenen im Sinne der Staatsräson. Ein über Jahrzehnte wirksames Zerwürfnis zwischen Oradour und dem französischen Staat war die Folge.

KNA: Für die deutschen Besuchspläne hieß das?

Erkenbrecher: Dass ein Versöhnungsbesuch solange unmöglich schien, bis sich der Ort nicht mit dem französischen Staat ausgesöhnt hatte. Auch deswegen dauerte es so lange, bis ein Bundespräsident dorthin reiste.

KNA:  Wie gehen die Einwohner des neuen Oradour-sur-Glane heute mit den zerstörten Resten des alten Dorfes um?

Erkenbrecher: Von den rund 2.500 Bewohnern sind nur noch die wenigsten familiär mit dem Massaker verbunden. Aber es gibt einen sehr aktiven Hinterbliebenen-Verband. Eine große Herausforderung ist der Erhalt der Ruinen. Im kommenden Jahr soll die Kirche restauriert werden, in der SS-Männer seinerzeit die Frauen und Kinder des Ortes zusammentrieben, um sie zu töten.

Das Interview führte Joachim Heinz.


Oradour-sur-Glane (dpa)
Oradour-sur-Glane / ( dpa )

Gedenken in Oradour-sur-Glane (dpa)
Gedenken in Oradour-sur-Glane / ( dpa )
Quelle:
KNA