domradio.de: Es fliehen weniger Menschen nach Europa, trotzdem sind dieses Jahr so viele Menschen wie noch nie zuvor im Mittelmeer ertrunken. Wie kann das sein?
Stefan Telöken (Sprecher des UNHCR/Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen): Das hängt damit zusammen, dass viele der Menschen, die dieses Jahr versuchen nach Europa zu kommen, den gefährlichen Weg von Libyen nach Italien nehmen. Hier ist es besonders gefährlich, hier sterben weitaus mehr Menschen als zum Beispiel bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland. Diese Überfahrten haben seit April deutlich abgenommen. Dazu kommen das schlechte Wetter und eine offensichtlich geänderte Taktik der Schleuser und Schlepper.
Die Boote, mit denen die Menschen versuchen nach Europa zu kommen, sind noch seeuntüchtiger. Sie kommen nicht in einzelnen Booten, sondern in mehreren. Wir hatten die letzten Tage tausend Menschen in zahlreichen Booten, die alle auf einmal versuchten, von Libyen aus nach Europa zu kommen und gerettet wurden. Aber auch dabei hat es zahlreiche Tote gegeben. Die Zahl wird mittlerweile deutlich höher liegen. Wir rechnen mit über 4.000 Toten, und das ist wirklich ein trauriger Rekord für das Mittelmeer, wo so viele Europäer eigentlich die schönsten Tage ihres Lebens erleben.
domradio.de: Was kann man dagegen tun?
Telöken: Es gibt keine einfache Antwort. Es gibt vor allen Dingen auch keine Lösung über Nacht. Klar ist zum einen, dass es unabdingbar ist, dass die Rettung der Menschen auf See fortgeführt wird. Hier leisten sowohl die Marinen verschiedener Länder als auch private Initiativen und die staatlichen Organisationen Großartiges. Da kann man nur danken. Zweitens muss das Schlepperunwesen zweifellos stärker bekämpft werden. Aber dazu muss eine dritte Komponente kommen, gerade aus der Sicht der UNHCR, einer Organisation, die dem Flüchtlingsschutz verpflichtet ist.
Es muss mehr organisierte Aufnahme von schutzbedürftigen Menschen nach Europa geben. Es muss mehr legale Wege geben. Da gibt es die traditionelle Möglichkeit, zum Beispiel die dauerhafte Ansiedlung von Flüchtlingen durch Kontingente oder durch humanitäre Aufnahmeprogramme, wie wir sie jetzt in Deutschland zum Beispiel für syrische Flüchtlinge kennen. Oder durch eine erweiterte und verbesserte Familienzusammenführung oder durch eine erleichterte Visa-Verteilung für Flüchtlinge. Das alles ist notwendig, um tatsächlich auch das Sterben auf dem Mittelmeer zu mindern - nicht zu beenden, denn das wird wahrscheinlich nicht möglich sein, denn wir haben es immer noch mit einer Vielzahl von Menschen zu tun, die auch aus anderen Gründen, die nicht im internationalen Flüchtlingsrecht zu suchen sind, versuchen, nach Europa zu kommen. Aber es wird auf alle Fälle dazu führen, dass schutzbedürftige Menschen nicht ihr Leben riskieren müssen, um Zuflucht zu finden.
domradio.de: Wir stehen kurz vom Winter. Ist zu erwarten, dass wegen der kalten Temperaturen die Flüchtlingszahlen zurück gehen werden?
Telöken: Die Zahlen sind bereits in den letzten Jahren zurück gegangen, aber sie sind nicht auf Null gesunken. Wir haben es gerade im Dezember letzten Jahres zum Beispiel bei der Überfahrt von Libyen nach Italien mit einer relativ hohen Zahl an Menschen zu tun gehabt. Im Winter ist das Wetter noch schlechter, im Winter ist es noch schlechter möglich, die Menschen aus ihren Booten zu retten. Insofern ist keine Entwarnung gegeben. Die Zahlen mögen runter gehen, die Gefahr bleibt.
Das Interview führte Renardo Schlegelmilch.