"Nach allgemeiner Vorstellung verkörperten Priester und Kinder dieses Ideal durch ihre sexuelle Unberührtheit am stärksten, was letztlich auch dazu führte, dass das Verhalten von Klerikern gegenüber Kindern bis in die Gegenwart nicht kontrolliert wurde", erläuterte Lutterbach am Dienstagabend in einer Gastvorlesung an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Erfurt.
Forschungsgeschichtlich gebe es nur ganz wenige Untersuchungen zum Verhalten von Klerikern gegenüber Kindern. "Bis vor Kurzem galt es als völlig unstrittig, dass es ausschließlich positiv gewesen sei", so der katholische Theologie-Professor der Universität Duisburg-Essen. "Es ist umso tragischer, dass sexueller Kindesmissbrauch ausgerechnet aus jener Gruppe kommt, die sich über Jahrhunderte für die Bildung und den Schutz für Kinder eingesetzt hat", so Lutterbach.
Sozialer Sonderraum eröffnet
Ab dem vierten Jahrhundert setzte sich das Ideal der kultischen Reinheit massiv durch und umfasste alle Bereiche des Alltags", erklärte der Kirchenhistoriker. Das habe von Speisevorschriften bis hin zu sexuellen Kleinstdelikten gereicht, die schon als kultische Verunreinigung galten. Daraus habe sich unter Klerikern eine "leistungsorientierte Verzichtsspiritualität" entwickelt: "Je höher der Verzicht, umso höher das Maß an kultischen Reinheit." Kleriker sollten demnach arm, gehorsam und sexuell unberührt wie ein Kind sein.
"Im Rückblick wird man bilanzieren dürfen, dass dieses Ideal der kultischen Reinheit einen sozialen Sonderraum eröffnet hat, der Klerus und Kinder exklusiv vorbehalten war, und der sich gegenüber äußerer Kontrolle machtvoll und hermetisch abgrenzen konnte", so Lutterbach. "Alle anderen fühlten sich diesem Ideal kultischer Reinheit unterlegen." Das habe offenbar große Hemmungen ausgelöst, diesen Sonderraum kritisch zu hinterfragen.