Nach dem blutigen Ende der Geiselnahme in einem jüdischen Supermarkt am Freitag bei Paris ist in der jüdischen Gemeinde Frankreichs - die größte in Europa - eine Debatte über die Emigration entflammt. Mehr als 7.000 französische Juden haben nach israelischen Presseberichten bereits im vergangenen Jahr den Weg der Alija, also der Auswanderung nach Israel, eingeschlagen. Das war eine Steigerung um 113 Prozent im Vergleich zum Jahr 2013.
Beim Verwaltungsrat der jüdischen Gemeinden in Paris, dem Konsistorium, klingelt seit Montag früh ohne Unterlass das Telefon. Mehr als 20 Anrufe hatten Fragen zur Auswanderung nach Israel. Das Konsistorium bescheinigt die Zugehörigkeit zum Judentum. Ein Schreiben des Verwaltungsrates beschleunigt bei einer geplanten Auswanderung sowohl Formalitäten als auch den Erwerb der israelischen Staatsbürgerschaft.
Israel fordert Juden zur Migration auf
Noch während der Geiselnahme am Freitag haben israelische Politiker die Juden Frankreichs zur Emigration aufgefordert. "Ich sage allen Juden Frankreichs, allen Juden Europas: Israel ist nicht nur der Ort an den Ihr Euch wendet um zu beten, der Staat Israel ist Eure Heimat", sagte Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu am Samstag. "Ohne seine Juden wäre Frankreich nicht mehr Frankreich", antwortete ihm sein französischer Kollege Manuel Valls.
Trotz der Demonstrationen am Sonntag unter dem Motto "Ich bin Charlie, Polizist, Jude", trotz der mehr als 5.000 Polizisten, die jüdische Schulen, Läden und Synagogen schützen, "haben die Juden in Frankreich Angst", sagte am Montag ein Polizist dem epd, der aus "Sicherheitsgründen" anonym bleiben möchte.
Deutlich mehr Übergriffe
Seit der Islamist Mohammed Merah im März 2012 drei Kinder und einen Lehrer in einer jüdischen Schule in Toulouse erschoss, haben antisemitische Übergriffe in Frankreich ständig zugenommen. In den ersten neun Monaten des Jahres 2014 hat das Innenministerium 527 Übergriffe registriert, eine Steigerung von 91 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Auch der Anschlag auf das jüdische Museum in Brüssel im Mai 2014 hat die französischen Juden erschüttert. Der Täter war Franzose. Bei einem Raubüberfall auf ein junges Paar in Créteil im Dezember, bei dem die junge Frau vergewaltigt wurde, suchten sich die Einbrecher gezielt Juden aus, da diese angeblich viel Geld haben.
Und die jüdische Gemeinschaft erinnert sich schaudernd an den Foltertod des jungen Ilan Halimi im Jahr 2006. Der französische Jude war entführt und wochenlang in einer Wohnung gefoltert worden, während die Geiselnehmer hohe Lösegelder von seinen Eltern forderten. Die Täter hatten ihn bewusst ausgewählt, da sie davon ausgingen, Juden seien reich. Sein geschändeter Körper wurde neben einer Bahnlinie weggeworfen.
Gefahr nicht ernst genommen
Obwohl François Hollande und Manuel Valls am Sonntagabend unter donnerndem Applaus in der großen Synagoge von Paris empfangen wurden, kritisieren viele Juden die "Banalisierung" des Antisemitismus. "Die Attentate der letzten Tage haben Frankreich und Europa in der Seele getroffen. Aber die Leute wären nicht nur für die vier Juden auf die Straße gegangen. Das haben sie nach Toulouse oder Brüssel auch nicht getan", sagte ein Mann am Sonntag am Rande der Demonstration.
Die Vertreter des Judentums sind nicht viel optimistischer. Der Präsident des Dachverbands der jüdischen Organisationen in Frankreich (Crif), Roger Cuikerman, sprach am Sonntag von einem "Kriegszustand".
Die Gemeinde schrumpft
Schon vor den Ereignissen der vergangenen Tage schätzte die jüdische Agentur die Kandidaten zur Alija für das Jahr 2015 auf mehr als 10.000. Eine noch größere Anzahl Juden emigriert jedes Jahr von Frankreich in die USA oder nach Kanada.
Die jüdische Gemeinde die in den letzten Jahren auf 500.000 bis 600.000 Mitglieder geschätzt wurde, könnte in den nächsten Jahren auf 400.000 schrumpfen. Dagegen leben in Frankreich ungefähr 4,7 Millionen Muslime. Aber auch diese Gemeinschaft wird immer öfter Opfer von Gewalttaten.