Immer noch Weihnachten

Fest der Liebe

Heute ist immer noch Weihnachten. Schon den dritten Tag. Als ich ein Kind war, war heute der Tag, an dem abends mein Opa kam.

Historisches Weihnachten: Drei Kinder im Winter vor einem Adventskranz / © N.N. (KNA)
Historisches Weihnachten: Drei Kinder im Winter vor einem Adventskranz / © N.N. ( KNA )

 

Mein Opa hatte sechs Kinder. Alle haben eigene Familien gegründet. Solange meine Oma noch lebte, sind alle sechs Familien am zweiten Weihnachtstag bei Oma und Opa aufgelaufen. In einer  Art großem  Wintergarten haben wir bei ihnen zusammen feierten. Jedes Jahr kamen neue kleine Wesen dazu.

Ich kann mich an dieses Gewusel gut erinnern: die Freude, die Cousins und Cousinen wieder zu treffen, das Geschrei, wenn Tretroller und Dreiräder aus Geschenkpapierbergen gewickelt wurden. So  großzügige Geschenke. Jeder bekam einen Weihnachtsteller. Keiner schaute, ob wir was übrig ließen oder gleich alles aufaßen.

 Am Ende waren wir 19 Enkel. Aber einige sind erst auf die Welt gekommen, nachdem die Oma plötzlich starb. Nur  66 Jahre war sie alt geworden. Für meinen Opa war das ein schwerer Schlag. Einer von dem er sich nie mehr wirklich erholen sollte.

Ab jenem Jahr wurde Weihnachten anders. Mein Opa wollte keinen Besuch mehr bei sich zu Hause - sondern teilte das ganze Weihnachtfest sorgsam in sechs Teile. Und machte sich von Kind zu Kind auf. 

Ganz am Ende, am Ende des zweiten Weihnachtsfeiertages, kam er dann zu uns. Mit den Weihnachtsgeschichten von seinen fünf anderen Kindern und Kindeskindern im Gepäck. Ich hing an seinen Lippen. Und mein Opa erzählte gerne.

Wenn sich am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertages die Tür hinter ihm geschlossen hatte, war ich immer ein wenig traurig: weil Weihnachten wieder ein Jahr vorbei war. Ja. Aber auch, weil mein Großvater mir Jahr für Jahr mehr sein Herz zeigte: In dem das riesengroße Loch, das der Tod seiner geliebten Frau gerissen hatte irgendwie statt kleiner, immer größer wurde.

Wie groß die Liebe war hatte ich schon früh begriffen. Elf Jahre war ich, als ich in der Kirche saß und von hinten sah, wie mein Großvater beim Jahresgedächtnis meiner Oma stumm weinte. Er bewegte sich nicht, wischte die Tränen nicht weg, ließ sie einfach auf die Kirchenbank tropfen. Jahr für Jahre vermisste er seine Frau, sehnte sich, vielleicht besonders an Weihnachten, danach, wieder bei ihr zu sein.

Mein Großvater hat mir gezeigt, wie tief, wie unverbrüchlich, Liebe sein kann.

 Heute ist immer noch Weihnachten. Und immer noch das Fest der Liebe.