DOMRADIO.DE: Gottvertrauen zu haben, ist erst einmal eine ganz gute Einstellung, oder?
Prof. Thomas Lemmen (Referat Dialog und Verkündigung im Erzbistum Köln): Das ist eine grundsätzlich gute Einstellung. Es gibt einen schönen Ausspruch des Propheten Mohammed dazu: "Vertraue auf Gott, aber binde dein Kamel an." Das heißt, es ist auf jeden Fall gut, Gottvertrauen zu haben. Aber das entbindet mich nicht von meiner eigenen Verantwortung - oder davon, verantwortlich zu handeln - grade jetzt in dieser Zeit.
DOMRADIO.DE: Gottvertrauen ist gut, aber es hat seine Grenzen. Wo fangen die an?
Lemmen: Man kann beobachten, dass sich die Religionsgemeinschaften weitgehend an die Einschränkungen der Corona-Maßnahmen gehalten haben, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Dennoch gab es einige Ausreißer: Freikirchliche Gemeinden, die sich in kleinen Räumen mit vielen Leuten getroffen haben. Oder Ausnahmefälle im Islam: Es gab einen Prediger, der in der Gemeinde sagte, in der Moschee müsse kein Abstand gehalten werden, weil im Haus Gottes nichts passieren könne.
In den Fällen, würde ich sagen, sind die Grenzen überschritten worden, weil die Vernunft hinten angestellt und alleine auf Gott vertraut wird. Das Gottvertrauen als solches ist richtig. Aber es entbindet mich nicht davon, auch meinen eigenen Verstand zu benutzen und die Dinge, die zur Eindämmung der Pandemie sinnvoll und notwendig sind, auch zu berücksichtigen.
DOMRADIO.DE: Haben Sie im Verlauf der Pandemie eine Veränderung festgestellt, was diese Einstellungen angeht?
Lemmen: Mit Blick auf den Islam, das ist ja mein Hauptthema, kann ich sagen, dass die muslimische Gemeinschaft aus ihrer reichen Geschichte und Gelehrsamkeit sofort angefangen hat zu reagieren. Beispielsweise der Gebetsruf: Da heißt es an einer Stelle: "Kommt zum Gebet". Der ist gleich zu Beginn der Pandemie abgeändert worden in "Betet zu Hause". Das ganze Jahr hindurch haben Muslime und andere das durchdekliniert. Sogar die Pilgerfahrt ist quasi abgesagt worden. Das Fasten und auch das Fastenbrechen sollten zu Hause begangen werden. Das sei eine Gelegenheit, diese Dinge einmal anders und bewusst zu erleben.
Ich glaube, die Erkenntnis, dass die Religionen auch etwas zusammen tun können, ist in der Zeit gewachsen, aber auch das Bewusstsein dafür. So gab es dann Mitte des Jahres diesen Weltgebetstag anlässlich der Coronavirus-Pandemie. Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung, dass die Religionen irgendwann angefangen haben, über den eigenen Tellerrand zu schauen und mit den anderen gemeinsam sich auch an Gott zu wenden, beziehungsweise sich untereinander zu helfen.
DOMRADIO.DE: Da sieht man Gemeinsamkeiten, aber gibt es auch einen Unterschied zwischen dem Gottesbild der Christen und der Muslime?
Lemmen: Es gibt Unterschiede darin, wie wir Gott verstehen. Im christlichen Glauben heißt es: der Gott - Jesu Christi, Vater, Sohn und Heiliger Geist. Das unterscheidet uns von Juden und Muslimen, die den einen Gott im Blick haben. Aber ansonsten gibt es da keine nennenswerten Unterschiede. Die Würzburger Synode sagt: "Der Gott unserer Hoffnung ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs, der Himmel und Erde geschaffen hat, den wir mit dem jüdischen Volk und auch mit der Religion des Islam öffentlich bekennen."
Der Gott unseres Glaubens ist der Grund unserer Hoffnung, nicht der Lückenbüßer für unsere Enttäuschungen. Das, denke ich, haben wir über die Religionsgrenzen hinaus gemeinsam.
DOMRADIO.DE: Würden Sie sagen, dass ein Christ sich impfen lassen muss?
Lemmen: Auf jeden Fall, es geht ja nicht nur um mich, um meine Gesundheit, sondern es geht auch um andere Menschen. Es heißt immer, Gesundheit ist das höchste Gut. Nein, das Leben ist das höchste Gut. Und zum Leben gehört Körper, Seele und Geist. Wenn ich mich jetzt nicht impfen lasse oder mich beim Impfen vordrängle, dann meine ich, vielleicht etwas für meine Gesundheit getan zu haben. Aber für meine Seele und für die Gemeinschaft habe ich damit nichts getan. Impfen ist aus meiner Sicht eine gute und notwendige Christen- und Christinnenpflicht.
Das Interview führte Carsten Döpp.